BIOGRAFIE

Jutta Loose als Schulkind
Jutta Loose als Schulkind

 

 

1. Profil

 

Jutta Loose wurde im Oktober 1949 in Oberhausen als einziges Kind ihrer Eltern, Anna Grete und Heinrich Stevenz, geboren. Die Mutter war Hausfrau, und der Vater ging seinem Dienst als Beamter bei der Post nach.

 

Aufgewachsen ist sie direkt an der Grenze der Städte Oberhausen und Mülheim. Der Großvater war Besitzer eines großen Areals, durch dessen Mitte sich die Grenze zog, welche optisch durch einen Grenzstein gekennzeichnet war. Die eine Hälfte des Grundstücks befand sich in Oberhausen, die andere Hälfte auf Mülheimer Gebiet. Die Großeltern wohnten im eigenen Haus auf Oberhausener Seite.

 

Sie wurde in einer Familie groß, in der auch die Großeltern für sie eine große Rolle spielten, denn sie waren einander sehr zugetan. Ein besonders inniges Verhältnis verband Jutta Loose mit ihrem Großvater, der, neben ihren Eltern, für sie in ihrer Kindheit zur wichtigsten Bezugsperson wurde.

 

Zu ihren beiden Großmüttern pflegte Jutta ebenfalls einen intensiven Kontakt und verbrachte viel Zeit mit ihnen.

 

Jutta Loose wuchs sehr behütet und geborgen in einer intakten Familie auf, welche jedoch mit einem großen Schatten behaftet war. Ihr Vater litt unter den Folgen weitreichender Verwundungen während des 2. Weltkrieges, die das Leben der kleinen Familie nachhaltig prägten.

Die Mutter von Jutta Loose war eine enorme Hilfe für ihren Ehemann und stand ihm unermüdlich und selbstverständlich zur Seite. Dennoch sorgten die Eltern stets dafür, dass Jutta eine völlig unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit erleben konnte. Sie konnte ihre Kindheit in einer Umgebung verbringen, die viel Freiraum für Bewegung, Aktivitäten und zum Spielen bot. Hervorzuheben in diesem Zusammenhang war der idyllische Garten der Eltern und Großeltern, in dem sie mit ihren Freundinnen und Nachbarskindern spielen und toben konnte.

 

Jutta Loose hatte in der Schule keinerlei Probleme und galt als gute Schülerin, die auch immer gerne zur Schule ging. Sie war wissbegierig, konnte sehr schnell lesen und teilte die Leidenschaft der Eltern: das Lesen von Büchern.

 

Zunächst besuchte sie die Volksschule, legte nach 4 Schuljahren die Aufnahmeprüfung zum Mädchen Lyzeum, früher Mädchengymnasium in Oberhausen ab. Kurz, bevor das Schuljahr dort beginnen sollte, erhielten die Eltern eine Ablehnung zur Aufnahme ihrer Tochter, da die Klassen ausgelastet seien und sie sich nach Mülheim orientieren sollten, da dies der Wohnort sei.

 

Enttäuscht besuchte Jutta weiterhin die Volksschule, um nach deren Beendigung eine weiterführende Schule, die Käte Kollwitz Haus-Wirtschaft-Schule in Oberhausen, zu besuchen. Dieser Schulaufenthalt hatte das Ziel, dass sie die mittlere Reife absolvierte und danach nochmals die Schule wechseln sollte, damit sie nach dem Wunsch der Mutter, das Abitur ablegen sollte. Kurz vor der mittleren Reife verließ Jutta Loose die Haus-Wirtschaft-Schule und war zu keinem weiteren Schulbesuch mehr zu bewegen.

 

Im Laufe der Jahre hatten ihre Eltern dem Großvater die Mülheimer Hälfte des Grundstücks abgekauft und ihren Wunsch nach einem Einfamilienhaus verwirklicht. Dort lebte Jutta Loose bis zu ihrer Heirat, im Alter von 23 Jahren, in Frieden mit ihren Eltern und dem Familienhund.

 

Sie begann eine Lehre zur Medizinischen - Fach -Angestellten (früher Arzthelferin) bei einem Internisten in Oberhausen und war engagiert in diesem Beruf, den sie mit Leidenschaft ausführte. Am Ende der Lehrzeit bestand sie vor der Ärztekammer ihr Examen. Von diesem Moment an wurde ihr von ihrem damaligen Arbeitgeber die Leitung einer großen internistischen Praxis mit 8 Angestellten übertragen.

 

Ihre Tätigkeit erfüllte sie mit Zufriedenheit und Freude, über Jahrzehnte mit Engagement und Empathie für die Patienten aus. Gleichzeitig nutzte sie große Teile ihrer Freizeit mit Besuchen von Weiterbildungsseminaren.

 

Nach einem Praxiswechsel von Oberhausen nach Mülheim arbeitete sie 47 Jahre in einer Hausarztpraxis in Mülheim, in der sie die Möglichkeit bekam, sich auf die Erkrankung Diabetes mellitus zu spezialisieren. Parallel dazu war das Thema Ernährung eine weitere Herausforderung für sie. Fortan eignete sie sich ein großes Wissen auf diesem Gebiet an. Sie hielt Schulungen für Diabetiker ab und hat für namhafte pharmazeutische Firmen Seminare zur Weiterbildung für Arzthelferinnen abgehalten.

 

Seit Ende 2019 ist Jutta Loose endgültig im Ruhestand, nach dem sie nach ihrem Rentenantritt Ende 2009, noch 10 Jahre - für einen Tag in der Woche - administrativ in der Praxis Tätigkeiten tätig war.

 

Seit 1973 ist sie mit Ihrem Mann Thomas verheiratet, den sie 1966 kennenlernte. Kinder haben sie keine.

 

2. Familie

 

2.0. Mutter

 

Meine Mutter, geb. Anna Grete Günther, wurde 1927 in Hamburg geboren. Verstorben ist sie im Dezember 2013 in Mülheim/Ruhr. Sie wuchs als Kind und Jugendliche in einem gut situierten Elternhaus auf. Der Vater Friedrich Günther (geb. 1888) war von Beruf Kaufmann und ihre Mutter Hertha Günther (geb. 1901) Hausfrau. 1932 kam ihr Bruder Wolfgang zur Welt. Beide verband eine innige Beziehung.

 

Meine Mutter lebte mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einer gehobenen Gegend in Hamburg und hat dort die fürchterlichen Nächte[1] des Feuersturms miterlebt, in denen ein großer Teil von Hamburg niedergebrannt wurde. Dabei verlor sie alle dort lebenden Verwandten väterlicherseits. Meine Mutter und ihr Vater konnten ihr Leben nur dadurch retten, dass sie sich nasse Decken über den Kopf warfen und eilends aus dem Keller, in dem sie sich befanden, herausliefen.

 

Am nächsten Tag - nach dieser grausamen Katastrophe - hat meine Mutter mit ihrem Vater in den völlig zerstörten Straßenzügen verzweifelt nach überlebenden Angehörigen gesucht, aber leider vergebens. Auch ihre Familie hat bei diesem schrecklichen und unvorstellbaren Brand, hervorgerufen durch ein pausenloses Abwerfen von Bomben auf die Stadt, alles verloren, es gab für sie kein Zuhause mehr.

 

Ihre Mutter befand sich mit ihrem Bruder während dieser schrecklichen Vorkommnisse bei ihren Eltern in Oberhausen.

 

2.1. Bescheidenheit der Mutter

 

Es fing mit der Kleidung an, wir, mein Vater und ich, wurden reichlich und gut ausstaffiert. Meine Mutter hingegen hat sich meiner Meinung nach zurückgenommen. Sie hat sich immer zuletzt etwas Neues zugelegt, was nicht bedeutete, dass meine Mutter nicht gut gekleidet gewesen wäre. Sie hat stets zuerst dafür gesorgt, dass mein Vater und ich gut angezogen waren, wenn wir das Haus verließen, um zur Schule und zur Arbeit zu gehen. Erst dann hat sie an sich gedacht. Ich fand ihr Verhalten bewundernswert, aber es machte mich manchmal auch traurig.

 

Ich habe als junge Frau einmal mit ihr darüber gesprochen. Ihre Antwort erstaunte mich, denn sie meinte, dies hätte ich wohl so wahrgenommen, aber da sollte ich mir keine Gedanken machen, ihr wäre es immer gut gegangen, sie hätte nichts vermisst. Sie habe zu jeder Zeit die Möglichkeit gehabt, sich das zu kaufen, was sie gebraucht hätte oder notwendig gewesen sei. Vielleicht habe ich es so empfunden, weil ich selbst reichlich an Garderobe hatte, denn meine Mutter nähte ständig etwas zum Anziehen für mich oder strickte mir die tollsten Pullover und Jacken.

 

 

2.2. Handwerkliches Geschick

 

Handwerklich war sie unglaublich begabt. Sie hat genäht, gestrickt, gehäkelt, gestickt, und sie beherrschte noch weitere Handarbeitsvarianten, bis hin zum Klöppeln und das Knüpfen von Teppichen.

 

In der Verrichtung des Haushalts war sie perfekt, ebenso bewies sie in der Bestellung des Gartens ein großes Talent. Sie war praktisch veranlagt, besaß eine große Koordinationsgabe und eine enorme innere Stärke.

 

Besonders erwähnenswert ist, dass sie eine hervorragende Köchin und Gastgeberin war. Sie zauberte die köstlichsten Speisen auf den Tisch und sie besaß nebenbei noch ein ausgeprägtes Organisationstalent.

 

3. Vater

 

Mein Vater, Heinrich Stevenz, wurde 1925 in Oberhausen geboren. Sein Elternhaus war auch sein Geburtshaus. Seine Eltern waren Heinrich Stevenz (geb. 1898) und Gertraud Stevenz (geb. 1903).

 

Eine ältere Schwester wurde 1922 und zwei weitere Schwestern als Zwillinge 1938 geboren.

 

Sein gesamtes Leben verbrachte mein Vater auf dem gleichen Grundstück an der Grenze Oberhausen/Mülheim.

 

Zunächst absolvierte er eine Lehre als Briefträger, um anschließend die Beamtenlaufbahn einschlagen zu können. Leider wurden seine Berufspläne zunächst durch den fürchterlichen 2. Weltkrieg zunichtegemacht, denn er wurde als Soldat eingezogen. Als schwer Kriegsversehrter - mit fatalen Folgen für sein Leben - kam er wieder in sein Elternhaus zurück.

 

Er war von seinem Naturell her ein ruhiger, ausgesprochen gepflegter und auf Sauberkeit bedachter Mann.

 

Durch seine offene und freundliche Art, auf andere Menschen zu zugehen, fand er schnell Gesprächspartner.

 

Er starb im Juli 2007 in einem Krankenhaus in Oberhausen im Alter von fast 82 Jahren.

 

4. Großeltern

 

4.0. Großmutter mütterlicherseits

 

Meine Großmutter mütterlicherseits war eine ausgesprochen gütige und liebe Frau, die aus Hamburg wieder nach Oberhausen gezogen war, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Ich war gerne mit ihr zusammen. Sie besaß das gleiche ruhige und geduldige Wesen wie meine Mutter. Da sie berufstätig war, sie arbeitete in der Gaststätte ihrer Schwägerin, konnten wir uns leider nur einmal in der Woche sehen. Diesen Tag habe ich genossen und bin ihr immer, da sie meist zur gleichen Zeit zu uns kam, freudig entgegengelaufen. An diesen Tagen unternahmen wir in den Sommermonaten häufig Ausflüge oder besuchten ein Restaurant. Natürlich verbrachte sie alle Feiertage in unserem Kreis.

 

Den Vater meiner Mutter habe ich nie kennenlernen können, da es zu ihm keinerlei Kontakt gab.

 

4.1. Großmutter väterlicherseits

 

Auch die Mutter meines Vaters hatte einen enormen Stellenwert in meinem Leben, sie mochte ich auch sehr gerne, was sich mit zunehmendem Alter meinerseits immer mehr vertiefte. Wir beide konnten unheimlich herzhaft zusammen über viele Dinge lachen. Als Kind hat sie mich zu jedem Besuch, den sie unternahm, mitgenommen. Ihre Tierliebe war groß und sie engagierte sich intensiv in der Betreuung herrenloser Katzen, sodass auf unserem Grundstück ein reges Treiben von Fellnasen stattfand.

 

Bis ins hohe Alter backte sie für mich die köstlichsten Blaubeer - und Kirschpfannkuchen, da kam selbst meine Mutter nicht mit.

 

Meine Oma hielt sich nie mit ihrer Meinung zurück. Gerade heraus und unverblümt sagte sie, was sie dachte. Wenn sie das tat, sprach sie immer mit der Person im dritten Fall, was uns als Familie oft zum Schmunzeln brachte. 

 

4.2. Großvater väterlicherseits

 

Mein Opa und ich habe jede Gelegenheit zu gemeinsamen Spaziergängen mit seinem Hund genutzt. Er hat mir die Natur erklärt, mir bei den Schularbeiten geholfen, mir, obwohl er sich sonst nie an den Herd stellte, köstliche Sahne-Bonbons zubereitet. Oft hat er mir Geschichten aus seinem Leben erzählt. Gespannt habe ich seinen Erzählungen gelauscht, insbesondere dann, wenn er von seiner Tätigkeit als Bergmann berichtete.

 

Dieser ausgeübte Beruf sollte zu seinem Verhängnis werden, denn er litt an einer Steinstaub-Lunge. Er erteilte mir Ratschläge für das Leben. Er sagte öfters zu mir: „Jutta, vielleicht erinnerst Du dich später einmal daran, was ich dir zu diesem Thema gesagt habe.“

 

War ich erkältet, kochte er mir einen Sirup aus echtem Lakritz, Honig, Thymian, braunem Kandis und Zwiebeln. Das Zeug schmeckte fürchterlich, aber es half.

 

Er war nie belehrend, sondern sprach stets in einer leisen, liebevollen Art, was man diesem großen Mann nicht zugetraut hat. Seine immer gleichbleibende Freundlichkeit, sein Gerechtigkeitssinn und die Toleranz seinen Mitmenschen gegenüber machten ihn aus.

 

4.3. Tod des Großvaters

 

1963 verstarb mein geliebter Opa. Bis zu seinem Tod waren wir täglich zusammen, denn wir wohnten quasi Tür an Tür, uns trennte nur der wunderschöne Garten. Er hat sich auf mich konzentriert, und ich bin mit offenen Armen auf ihn zugegangen, denn er war immer hilfsbereit und ein guter Zuhörer.

 

Manchmal haben wir auch so ein bisschen philosophiert. So haben wir uns ausgemalt, wie es ist, wenn wir uns später irgendwo einmal wiedersehen, weil er immer sagte, er würde nicht mehr lange leben. Das war etwas, was mich unwahrscheinlich in dieser Zeit bedrückt hat, aber ich habe es verdrängt, wollte es mir nicht vorstellen.

 

Plötzlich war mir meine wichtigste Bezugsperson - neben meinen Eltern natürlich -, für mich unvorbereitet nicht mehr präsent.

 

Am nächsten Tag bin ich zum Friedhof gefahren, um in der Leichenhalle Abschied von ihm zu nehmen. Dies war ein ganz einschneidendes Erlebnis für mich. 

 

5. Familienleben

 

5.0. Kindheit

 

Ich glaube, als Kind wünscht man sich, nichts mehr als geliebt zu werden und das Gefühl der Geborgenheit zu besitzen. Dass ich darauf wirklich zurückblicken kann, ist eine dankbare Erfahrung in meinem Leben.

 

Durch die Folgen der ausgeprägten Kriegsbeschädigung meines Vaters war unser Leben anders als das in einer Familie, in der Eltern und Kinder gesund sind. Dennoch haben meine Eltern mir das Gefühl gegeben, in einem gesicherten und behüteten Elternhaus aufwachsen zu können.

 

Meine Eltern haben sich nach dem Krieg Anfang 1947 kennengelernt, kurz nachdem mein Vater aus dem Lazarett entlassen worden war. Sie sind ihr neues Leben souverän und voller Engagement, viel Mühe und Kraft angegangenen und haben im Laufe der Zeit ein gutes Leben für uns drei aufgebaut.

 

Die schlaflosen Nächten meines Vaters, in denen ihn der Phantomschmerz heftig plagte, er keine Ruhe fand, blieben mir nicht verborgen.

 

Ich kann mir vorstellen, wie schwierig dies für meine Eltern als junges Ehepaar war, aber sie haben sich mir gegenüber nur positiv und aufgeschlossen gezeigt. Als ich älter wurde, entging mir diese Tatsache öfters durch den Kopf, und es macht mich heute noch manches Mal wehmütig, wenn ich darüber nachdenke. Andererseits hat es mich sicherlich auch gestärkt, sodass ich eine große Empathie für meine Mitmenschen und für Tiere entwickelt habe.

 

Meine Eltern haben mich zu einem sehr selbstständigen Menschen erzogen, aus dem ich wahrscheinlich noch heute meine Kraft ziehen kann, viele Situationen zu meistern, die ich, vielleicht unter anderen Umständen – oder wenn ich es anders erlebt hätte –, nicht hätte bewältigen können.

 

 

Die Verbindung zwischen meinen Großeltern väterlicherseits und meiner Großmutter mütterlicherseits mit mir war intensiv und von gegenseitigem Vertrauen geprägt. Bis zu ihrem Tod hatte sich nichts daran geändert. Unendlich viele gemütliche, fröhliche und interessante Stunden haben wir miteinander verbracht. Es gab keinen Geburtstag, kein Oster- und Weihnachtsfest oder andere zu feiernde Gelegenheiten, welche wir nicht gemeinsam erlebt hätten.

 

Natürlich gab es noch andere Verwandte, aber diese bekam man nicht häufig zu sehen, was auch damit zu tun hatte, dass sie allesamt nicht in der Nähe wohnten.

 

Zu meiner Patentante, die in Düsseldorf lebte, hatte ich eine nicht so gute Verbindung, da sie nur selten in Mülheim weilte.

 

5.1. Kriegsbeschädigung des Vaters

 

Mein Vater kam bedingt durch seine Kriegsverletzungen erst Anfang 1947 aus dem Lazarett wieder nach Hause. Er war als Soldat der Abteilung Marine zugeteilt worden. Verwundet wurde er Ende 1944 in der Nähe von Dänemark durch einen Angriff von Tieffliegern auf das Schiff, auf dem er eingesetzt war.

 

Dabei wurde ihm die rechte Hand sowie ein Teil des rechten Unterarmes abgerissen, das rechte Schultergelenk war mehrfach durchschossen worden und die Nervenbahnen, die zur Beweglichkeit des Armes beitrugen, zum größten Teil zerstört. Die linke Hand war so erheblich verletzt, dass er nach über 20 Operationen nur noch 3 Finger und den Daumen besaß, die Handfläche war bloß noch zu etwa zwei Drittel erhalten. Sie war allerdings komplett in der Handbreite mit einer großen Narbe durchzogen, die sich in der Innenhand und auf der Handaußenseite zeigte.

 

Der Arzt, der die Hand noch retten konnte, hat ein Wunder vollbracht, denn es gab immer wieder gravierende Komplikationen und Rückschläge im Heilungsprozess zu bewältigen, was seinen Aufenthalt im

 

Lazarett extrem lange andauern ließ.

 

Durch die Lähmungen im Oberarm und im Schulterbereich, war es für meinen Vater durch die Störung der Statik schwierig, die Balance zu halten. Er war deutlich sturzgefährdet. Dadurch hat er sich eine kerzengerade Körperhaltung zugelegt, welche die Unsicherheit milderte.

 

Trotz der erheblichen Beeinträchtigung seiner Lebensqualität hat mein Vater sein Leben gemeistert, und als Beamter bei der Post bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung - aus gesundheitlichen Gründen - gearbeitet.

 

5.2. Behinderung des Vaters

 

Aufgrund der Kriegsverletzungen litt mein Vater unter erheblichen Phantomschmerzen, die ihn nicht nur tagsüber beeinträchtigten, sondern ihm in vielen, vielen Nächten seinen verdienten Schlaf raubten. Dies blieb mir nicht verborgen und machte mich traurig, dass er so leiden musste.

 

Die Behinderung meines Vaters machte sich in vielfältiger Weise bemerkbar. Die Handhabung eines Messers bereitete ihm große Schwierigkeiten, denn wollte er sich selber ein Brot schmieren, rutschte er vom Teller oder Frühstücksbrett ab, da seine Feinmotorik in der noch verbliebenen Hand stark eingeschränkt war. Bei Verrichtungen des Alltags, die für jeden eine Kleinigkeit darstellen, bedurfte er unserer Hilfe. So war es ihm nicht möglich, einen Manschettenknopf in die Hemdmanschette zu führen, Knöpfe insbesondere im Hemdkragenbereich zu schließen, war unmöglich. Das Binden einer Krawatte führte meine Mutter aus, die Schuhsenkel konnte er sich nicht binden, Reißverschlüsse an Jacken ging gar nicht. Selbst das Bedienen eines Feuerzeuges war nicht möglich. Ich weiß nicht, wie viele Varianten meine Mutter besorgt hat.

 

Handwerkliche Arbeiten - und waren sie noch so minimal - musste ein Handwerker durchführen.

 

Es gab noch so viele andere Hilfestellungen, die geleistet werden mussten, aber die Liste würde zu lang werden.

 

In grob motorischen Angelegenheiten konnte er sich besser helfen. So pflegte er mit seinem intakten Arm unseren Garten, natürlich musste meine Mutter auch dort einen großen Teil der Arbeiten übernehmen, dazu gehörten das Graben, das Einsäen von Saatgut und das Pflanzen von Stecklingen usw.

 

5.3. Hilflosigkeit des Vaters

 

Eine Begebenheit hat sich bei mir in meiner frühen Kindheit intensiv eingeprägt. Ich war etwa 4 Jahre alt und mir wurde schlagartig klar, wie hilflos mein Vater war, als mein Schnürsenkel an einem Schuh aufging, und er ihn nicht wieder zubinden konnte. Ein Freund meines Vaters stand ebenfalls ratlos daneben, er konnte sich nicht zu mir herunterbeugen, da er eine Beinprothese bis zur Hüfte trug, welche nicht im Knie beweglich war.

 

Da wir uns zu dieser Zeit auf einem Friedhof befanden, ist mein Vater durch die Gräberreihen gelaufen und hat eine ältere Dame angesprochen, die uns hilfreich zur Seite stand und meinen Schuhsenkel wieder zugebunden hat.

 

Von diesem Tag an habe ich mich unermüdlich mit dem Binden von Schnürsenkeln beschäftigt, bis ich es endlich gänzlich beherrschte.

 

5.4. Beruf des Vaters

 

Beruflich knüpfte mein Vater wieder in seinem erlernten Beruf an, er war Alleinverdiener, übte als Beamter bei der Post in der Briefverteilung in voller Dienstzeit seinen Beruf bis zu seiner Frühpensionierung aus. Er hat es geschafft, sich bei der Post hochzuarbeiten und dafür sorgen können, dass sich unser Lebensstandard stetig verbesserte und wir ein gutes Leben führen konnten.

 

5.5. Einfluss der Kriegsbeschädigung des Vaters

 

Meinem Vater wurde eine Schwerbehinderung zu 90 % vom Versorgungsamt anerkannt und dementsprechend bekam er eine Kriegsversehrten Rente. Ich habe meinen Vater im Alltag beobachten können. Innerhalb der Familie wurde über seine Kriegsbeschädigung selten gesprochen. Er selber ist in der Öffentlichkeit mit seiner Behinderung so umgegangen, dass er z. B. nirgendwo in der Öffentlichkeit gegessen hat. Es war ihm unangenehm, denn es hätte ihm etwas von der Gabel fallen können.

 

Er war ständig auf die Hilfe – insbesondere meiner Mutter – angewiesen. Sie war immer an seiner Seite, nie war ihr eine Hilfestellung zu viel. Niemals ist eine negative oder genervte Bemerkung über ihre Lippen gekommen, es war für sie das Selbstverständlichste der Welt.

 

Bei unseren täglichen Mahlzeiten war es so, dass zuerst mein Vater von meiner Mutter gefragt wurde, was er haben möchte, und dann legte sie ihm das Gewünschte auf den Teller und schnitt das Fleisch in mundgerechte Stücke.

 

War meine Mutter vielleicht gerade nicht zugegen und er sich eine Scheibe Brot zurechtmachen wollte, rutschte ihm das Messer weg, und er verletzte seinen Armstumpf, trotz aller Hilfsmittel, die ihm vom Versorgungsamt zur Verfügung gestellt wurden. Eine Prothese konnte er nicht dauerhaft tragen, weil dann sein Arm weiter nach oben hätte amputiert werden müsste.

 

5.6. Vaters Behinderung bei Besuch

 

 Mein Vater hat nie den versehrten Arm für andere sichtbar gezeigt, sondern ihn stets mit einem sogenannten Strümpfchen über dem Stumpf versehen. Ich denke, dass das für meinen Vater persönlich eine unheimliche Belastung war, obwohl er nie darüber gesprochen hatte. Wenn wir Gäste hatten, hat mein Vater nie mit uns zusammen gegessen. Selbst wenn die Gäste mittags schon kamen und erst nachts gingen. Er hat dabei gegessen, aber er hat keine Speisen zu sich genommen. Stets sagte er: „Ich habe keinen Appetit.“ Das konnte ich als Kind nur schwer akzeptieren. Wenn er den Raum verließ, in dem alle zusammen aßen, haben meine Mutter oder ich ihm etwas auf einem Teller angerichtet, ihm diesen in das Zimmer gebracht, in welches er gegangen war und dann hat er es gegessen.

 

5.7. Holzhacken

 

Ich habe meinen Vater im Alltag auch beobachtet. Wir heizten unseren Ofen mit Kohle und zum Anzünden brauchte man Holz. Dies musste man kaufen, sammeln oder selber zerhacken. Das Holz wollte mein Vater hacken. Oft habe ich ihn dabei beobachtet, wie er mit der Axt in der einen Hand und mit seinem Stumpf hantierte und versuchte das Holzstück zu zerkleinern. Im Alter von etwa 10 Jahren bin ich heimlich, wenn er zur Arbeit war, in den Stall gegangen und habe dort die vorhandenen Holzstöcke zu Feuerholz gehackt. Er war dann immer sehr erstaunt, wo das ganze Feuerholz herkam. Mir hat es Spaß gemacht, und ich war froh, dass er sich da nicht verletzen konnte. Als er herausfand, dass ich es war, die das Holz gehackt hatte, wurde sofort auf gekauftes Feuerholz umgestellt. Die Axt wurde an einem für mich nicht erreichbaren Ort gelagert.  

 

5.8. Familienalltag

 

Trotz der Folgen der ausgeprägten Kriegsbeschädigung meines Vaters verlief unser Leben normal ab. Meine Eltern haben mir immer das Gefühl vermittelt, in einem gesicherten und behüteten Elternhaus aufwachsen zu können. Die Behinderung meines Vaters wurde nicht ständig hervorgehoben, dies hätte er nicht gewollt.

 

Für mich war es nie ein Problem, meinen Vater mit den Folgen seiner Verwundungen wahrzunehmen. Ich habe akzeptiert, dass mein Vater anders aussieht als andere Männer. In meiner Schulklasse war ich die einzige Schülerin, die einen Vater hatte, bei dem die Folgen des Krieges so offensichtlich zu sehen waren. Alle Leute, auch meine Freundinnen und Klassenkameradinnen, gingen ebenfalls ganz normal mit seiner Behinderung um. Durch seine freundlich und aufgeschlossen zugewandte Art anderen Menschen gegenüber war er ein angenehmer Gesprächspartner.

 

Ich glaube, diese Einschränkungen meines Vaters waren für mich die Voraussetzung dafür, dass ich sehr gut mir kranken Menschen umgehen konnte und überhaupt keine Berührungsängste mit Behinderten habe. Auch wenn mein Vater zeitweise immer wieder von fürchterlichen Schmerzen geplagt wurden, hat er nie laut geklagt. Besonders schlimm war es zur kalten Jahreszeit, da lief er nächtelang vor Schmerzen durch das Haus.

 

Dennoch haben mir beide Elternteile immer nur Positives vermittelt. Von den negativen Erfahrungen, die meine Eltern während des Krieges und auch danach erleben mussten, haben sie mir in meiner Kindheit nichts berichtet. Ich muss gestehen, ich habe auch nicht danach gefragt.

 

6. Urlaubsreisen

 

Meine Eltern sind über viele Jahre hinweg nicht Urlaub gefahren, weil mein Vater das Problem mit dem Essen hatte. Ferienwohnungen gab es zum damaligen Zeitpunkt nicht, aber meine Eltern ermöglichten es mir, dass ich mit meiner Schulfreundin Urlaub verbringen konnte. Die Eltern meiner Freundin kannten die Situation und haben gefragt, ob meine Eltern damit einverstanden wären. So kam ich in den Genuss und habe einige herrliche Gegenden von Deutschland kennengelernt.

 

Ab 1974 trat eine große Wende ein und meine Eltern buchten einen 4-wöchigen Urlaub im Harz. Von dieser Zeit an waren sie zwei Mal im Jahr für jeweils 4 Wochen auf Reisen. Selbst mein Vater fing an, in Restaurants zu essen, selbst große Gesellschaften stellten kein Problem mehr dar.

 

7. Verwechslung bei der Geburt

 

Zwei Tage nach meiner Geburt passierte Folgendes: Ich wurde im Krankenhaus vertauscht, meiner Mutter wurde ein anderes Kind in den Arm gelegt. Sie bemerkte die Verwechselung sofort. Die Beharrlichkeit ihrerseits gegenüber Schwestern und Ärzten, welche diese Verwechslung zunächst nicht wahrhaben wollten, hat dann aber dazu geführt, dass ich doch wieder meiner Mutter übergeben wurde. Es waren irrtümlich die Armbändchen mit den Namen der Säuglinge vertauscht worden, beide hatten wir den Vornamen Jutta.

 

8. Wohnen

 

8.0 Wohnen von 1947-1951

 

In den ersten Jahren nach der Heirat meiner Eltern lebten sie in einem Zimmer im Haus meiner Großeltern. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam eingenommen und meine Eltern bekamen so die Möglichkeit, dass sie von den Bezügen meines Vaters Geld für ihre weitere Zukunft beiseitelegen konnten. Leider erkrankte meine Mutter nach meiner Geburt sehr, sodass ein langer Krankenhausaufenthalt und eine anschließende Kur erforderlich wurden.

 

Während dieser Zeit kümmerte sich meine Oma liebevoll um mich..

 

8.1. Erste eigene Wohnung

 

Als ich 2 Jahre alt war, sind meine Eltern mit mir in ein kleines Häuschen, welches auf dem Nachbargrundstück in Mülheim stand, gezogen. Es hatte keinen Keller, bestand aus einer winzigen Küche, einer kleinen Diele, dem Wohn- und einem Schlafzimmer. Die Fenster waren nicht sehr groß und hatten im Außenbereich des Hauses keine Rollläden, sondern es waren dunkelgrüne Blenden angebracht, die abends zugemacht wurden und eine Art von Sicherheit darstellten.

 

Beim Betreten des Häuschens stand man sofort in der kleinen Diele, sie bot Platz für eine Garderobe und ein kleines Tischchen als Ablage von Taschen. Viel Bewegungsfreiheit bot sie nicht, man konnte sich kaum darin drehen.

 

Links neben der Haustür war die winzige Kochküche. Dort fand die Nahrungszubereitung statt. Im Nachhinein ist es für mich rätselhaft, was meine Mutter dort alles an schmackhaften Gerichten gezaubert hat, insbesondere dann, wenn wir Gäste hatten.

 

Weil wir kein Badezimmer besaßen, wurde für mich abends eine kleine Badewanne in die Küche gestellt, damit ich, wenn ich vom Spielen kam, gewaschen werden konnte.

 

In der Küche gab es einen Spülstein, einen Küchenschrank, einen elektrischen Herd, noch ein kleines Schränkchen, eine kleine Arbeitsplatte, Platz für einen Mülleimer und einige Regale an den Wänden. Der Abfalleimer befand sich unter der Spüle.

 

In unserem Wohnzimmer war Platz für eine komplette Wohnzimmereinrichtung. In einer Ecke stand ein kleiner Kachelofen, der an kalten Tagen mit Holz und Kohlen beheizt wurde und in dem Raum eine kuschelige Wärme verbreitete. Ein Wohnzimmerschrank, eine Couch, 3 Sessel, 1 Tisch sowie eine Musiktruhe fanden dort Platz. Dies war das Zentrum, wo wir uns aufhielten, wo wir gegessen, gebastelt, gehandarbeitet, gelesen und Spiele gespielt haben und unser Alltagsleben stattfand.

 

Das Schlafzimmer war so, wie man sich Schlafzimmer eben vorstellt. An einer Wand stand noch mein Kinderbett.

 

Das Haus war nicht unterkellert und deswegen natürlich im Winter sehr fußkalt. Aber wir hatten ja den schönen Kachelofen und Teppiche auf den Dielenböden. Wenn ich vom Spielen nach Hause kam, habe ich mich in den Sessel gesetzt, der in der Nähe des Ofens stand. Dann habe ich gelesen, gehandarbeitet oder mich mit meiner Mutter unterhalten. Auf dem Kachelofen stand immer schon meine Milchsuppe, entweder Milchreis oder Haferflocken. Das wurde auf der kleinen Oberfläche, die zur Verfügung stand, warmgehalten oder gegart. Meine Mutter gab dann noch einen Stich Butter und Obst dazu.

 

 

8.2. Vorratshaltung

 

Unser Keller und auch die Waschküche befanden sich im Nebenhaus. Dort lagerten unsere Vorräte. Die kamen aus dem riesigen Garten, den meine Eltern selbst bebauten, sodass wir uns das ganze Jahr über von Obst und Gemüse ernähren konnten. Natürlich habe ich als Kind gerne auch ein wenig im Garten mitgeholfen. Nur das Unkraut zu zupfen mochte ich gar nicht.

 

Regelmäßig wurden Obst und Gemüse eingekocht und die Einmachgläser auf Regalen gelagert. Kartoffeln wurden beim Bauern bestellt und in Säcken angeliefert und sofort in die Kartoffelkiste geschüttet, so hatte man den ganzen Winter über einen ausreichenden Vorrat.

 

Äpfel und Birnen kamen ebenfalls zur Lagerung in den Keller und hielten sich dort über Monate.

 

Natürlich musste man als Kind auch ein bisschen mithelfen, aber das haben wir gerne getan.

 

Was eingekauft werden musste, waren die Grundnahrungsmittel. Fleisch, Wurst, Käse, Butter und Milch konnten im ersten Jahr unseres Bezugs des Hauses aber nur in kleinen Mengen erfolgen, da der Kühlschrank in den ersten beiden Jahren noch nicht vorhanden war. Im Winter wurde alles auf die Fensterbank nach draußen gestellt, und im Sommer wurde so eingekauft, damit nichts schlecht werden konnte.

 

Kohlen waren ebenfalls wichtig und so wurde für die Wintermonate auch vorgesorgt und die erforderliche Menge im Keller gelagert. Der tägliche Bedarf wurde mit einer Kohlenschütte geholt, was bei Schnee und Glatteis nicht gerade eine angenehme Tätigkeit darstellte, denn die Kellertreppe war eine hohe Gefahrenquelle, wenn die Stufen glatt waren.

 

8.3. Das Plumpsklo

 

Mit einer Toilette im heutigen Sinne konnten wir nicht aufwarten. Wir hatten das sogenannte „Plumpsklo, was zur damaligen Zeit bei uns und in unserer Nachbarschaft Standard war, da die Infrastruktur derartig vernachlässigt wurde und die Kanalisation noch nicht verlegt worden war.

 

Etwa im Jahr 1957/1958 begann die Verlegung der Abwasserkanäle in unserer Straße. Auch die umliegende Bebauung war sehr karg. Zur Toilette mussten wir ums Haus herumgehen. Unser sogenanntes „Plumpsklo“ war für damalige Verhältnisse schon „feudal“. Es war ein kleines Steinhaus.

 

Die Toilette war aus edlerem Holz gearbeitet. Die Sitzfläche hatte ein glattes glänzendes Holz; man bekam also keine Splitter in den Po, wenn man sich draufsetzte und es konnte gut gereinigt werden. Aus gleichem Material war der Holzdeckel und der Boden war mit Linoleum ausgelegt, konnte somit gut gereinigt werden. Da kein Strom lag, standen zwei dicke Kerzen bereit und Streichhölzer zum Anzünden der Kerzen. Ein kleines Fenster sorgte am Tag für etwas Helligkeit.

 

Aber es lag außerhalb des Hauses. Wenn man abends spät im Dunkeln rausmusste, war es so was von stockfinster, weil es absolut keine Lichtquelle gab. In meinen ersten Kinderjahren durfte ich nachts nicht alleine ums Haus gehen, da musste ich das sogenannte „Thrönchen" benutzen, was heute wahrscheinlich unvorstellbar ist, aber es war damals halt so.

 

Wenn meine Mutter das Plumpsklo reinigte, sagte sie manches Mal scherzhaft. „Was habe ich mir angetan, dass ich von Hamburg nach Dümpten kam. Ich bin vom Regen in die Traufe gekommen, von einer riesigen großen 5-Zimmerwohnung mit 2 Bädern auf ein Kuhdorf, wo ich ein Plumpsklo benutzen muss.  Dann haben wir herzhaft gelacht.

 

Sie war mit meinem Vater zusammen und beide bildeten eine glückliche Einheit, und dadurch war auch meine Kindheit sehr glücklich, da bildete das Plumpsklo eine Nebensache.

 

8.4.  Angenehmes Wohnen

 

Unser kleines Häuschen war vielleicht nicht so modern, aber es war eine kleine Oase, wir fühlten uns da allesamt miteinander wohl. Meine Eltern waren lustige Menschen, wir haben recht viel gelacht, wir haben auch viel gemeinsam unternommen. Meine Mutter war rund um die Uhr für mich da. Was erneuert werden musste, sei es Gardinen oder Tischdecken oder sonstige Decken, das wurde alles von meiner Mutter selbst angefertigt. Im Wohnzimmer befand sich auch die Nähmaschine, weil meine Mutter sie ständig in Betrieb hatte und den größten Teil meiner Garderobe selbst genäht oder gestrickt hatte. Ich war immer „wie aus dem Ei gepellt“, dies war die Redensart der Nachbarn.

 

Wenn ich aus der Schule kam, musste ich mich umziehen. Zum Spielen im Freien gab es andere Kleidung. Vor unserem Haus hatten wir einen großen Hof, wo wir Kinder spielten. Dort befand sich auch unter einer großen Betonplatte eine Sickergrube, in der das Wasser aus den Haushalten aufgefangen wurde und in regelmäßigen Abständen abgepumpt wurde, mangels vorhandener Kanalisation.

 

 

Wollte ich mich richtig austoben, oder mich zum Lesen im Freien zurückziehen, nutzte ich den direkten Durchgang vom Hof in den Garten meiner Großeltern. So hatte ich viel Freiraum zum Spielen zur Verfügung.

 

Ein Bäcker und ein Milchmann belieferten uns mit Brot und Milchprodukten, beide kamen zwei Mal pro Woche. Der Bäcker machte sich mit einer lauten Glocke bemerkbar und der Milchmann rief aus voller Kehle: Der Milchmann ist da. In der Gegend, wo wir wohnten, gab es einen kleinen Lebensmittelladen, der aber erst im Laufe der Jahre sein Sortiment vergrößerte. Ansonsten gab es nur die Bauernhöfe, die ein bisschen weiter entfernt lagen, sie waren in drei Richtungen verstreut. Wollte man besondere Dinge kaufen, musste man in Richtung Oberhausen erst einmal ungefähr 30 Minuten laufen, bis man in die Stadtmitte von Oberhausen mit ihren Geschäften kam.

 

8.5. Schneeverwehungen

 

In Richtung Mülheim zur Mellinghofer Straße führte der Weg in den 50er-Jahren nur durch eine Felderlandschaft. Insofern wohnten wir recht ländlich, was sich insbesondere im Winter erschwerend bemerkbar machte. Bei heftigen Schneeverwehungen wurde unser Haus 3-mal regelrecht hinter einer Schneewand versteckt, sodass ich tageweise nicht zur Schule konnte, weil auch niemand kam, der diese hohe Schneewand entfernte. Meine Eltern waren ebenfalls machtlos, denn wir besaßen kein Telefon, es konnte keine Hilfe von außen angefordert werden.

 

Weil das Haus keinen Keller hatte und nicht alle Räume geheizt werden konnten, sind bei tagelangem Frost die Wasserrohre eingefroren, sodass wir kein Wasser hatten. Auch bildeten sich in den Zimmern, in denen kein Kohleofen Wärme verbreiten konnte, Eisblumen an den Fensterscheiben. Bei Frost legte meine Mutter stets sicherheitshalber einige Töpfe Wasser als Vorräte zu.

 

Aber dennoch haben wir uns wohlgefühlt, und wenn wir eingeschneit waren, war es noch heimeliger, denn es war noch ruhiger, als es sonst schon war. Es war sowieso eine absolut ruhige Wohngegend, da damals die ehemalige B1 nur wenig frequentiert wurde, und meist nur Pferdefuhrwerke durch die Straße fuhren.

 

 

8.6. Protest an den Badetagen

 

Meine Großeltern kamen früher in den Genuss, dem Abwasser-Kanal System von Oberhausen angeschlossen zu werden, sodass wir zum Duschen durch den Garten in das neue Badezimmer meiner Großeltern gingen.

 

Zuvor war das wöchentliche Baden in der großen Zinkwanne angesagt, und das war etwas, wovor ich mich regelrecht gescheut habe. Wenn wir Kinder – mein Cousin und ich - zum Zeitpunkt des Badens bei den Großeltern waren, sollten auch wir die Badewanne nutzen. Dies hieß immer: Oma zuerst, dann kam der Opa, und zum Schluss sollten wir in das gebrauchte Wasser.  Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt und habe es einfach nicht gemacht.

 

Meine Oma war darüber immer sehr erbost, dass ich eigenes Wasser haben wollte. Jegliches gute Zureden und Versprechungen eine Tüte Bonbons zu bekommen, konnten mich nicht dazu bringen, die Wanne zu besteigen. Ich fand das so unästhetisch, und mir sträuben sich heute noch die Haare, wenn ich daran denke.

 

Meine Eltern hatten Verständnis dafür und haben dann dafür gesorgt, dass ich das nie brauchte. Waren meine Eltern nicht zu Hause, und es war der sogenannte Badetag, hat meine Oma es dennoch immer wieder versucht, mich in das schon benutzte Wasser zu setzen. Vergeblich!

 

 

8.7. Straßenveränderung, Bebauung

 

Der Ausbau der Infrastruktur dauerte noch ein einige Jahre. Die Gegend war von Bauernhöfen und deren großen Ackerflächen und Feldern mit Wiesen umgeben. Wohnhäuser standen in größeren Abständen zueinander, einige davon wiesen gravierende Kriegsschäden auf und konnten nur teilweise bewohnt werden. Die heutige - viel befahrene A 40  - war am Ende unserer Straße mit ihr ebenerdig.

 

Die damalige B1 wies zwei unübersichtliche Kurven auf, was eine gefährliche Angelegenheit war, wenn sich ein Auto mit höherer Geschwindigkeit näherte. So ist es zu einigen fatalen Unfällen mit Fußgängern gekommen.

 

Zum Ende der 50er-Jahre wurden Arbeiten in der Infrastruktur in unserer Straße durchgeführt. Kanalisation wurde gelegt und die Bebauung einiger Grundstücke gingen voran. Somit erhöhte sich auch der Anteil der Nachbarschaft und nette Leute zogen hinzu.

 

Aber auch das Umland veränderte sich, denn viele Wiesen und Felder mussten großen Werken und Geschäftsunternehmen sowie Bürogebäuden weichen. Aus den Feldwegen wurden Autostraßen, das Frequentieren durch Autos jeglicher Art nahm deutlich zu. Allmählich war unsere schöne Idylle mit ihren blühenden Blumen am Wegesrand, den kleinen Bächen und Tümpeln verschwunden.

 

Viele Jahre später erfolgte noch eine riesige Baustelle, denn die ehemalige B1 wurde tiefer gelegt, da der Verkehr schon lange extrem zugenommen hatte. Die Mannesmann-Röhrenwerke siedelten sich an.

 

8.8.  Das eigene Haus

 

Nach und nach wurden ein paar Häuser gebaut, andere umgebaut. Auch meine Eltern begannen Anfang der 60er-Jahre mit dem Bau ihres Hauses. Innerhalb weniger Monate konnten wir ein Einfamilienhaus beziehen.

 

So ergab sich nach dem Umzug in das neue Haus ein ganz anderes Lebensgefühl. Man hat nicht mehr so eng zusammengelebt wie in dem kleinen Häuschen, wo ich kein Kinderzimmer hatte. In dem kleinen Häuschen hatte ich im Wohnzimmerschrank auf der linken Seite ein ziemlich großes Fach bekommen, wo meine Spielsachen eingeräumt wurden.

 

Ich konnte mich in meinem Zimmer jetzt selbst verwirklichen, da es gemütlich eingerichtet war. Meine Klassenkameradinnen kamen weiterhin vorbei und wir klönten oder hörten Musik. Selbst nach 50 Jahren wurde ich beim Klassentreffen auf dieses Haus angesprochen, welches geradezu ins Auge stach. Es stand auf einer kleinen Erhöhung und war vom Optischen her ein Blickfang. Wenn ich mir die Fotos von früher anschaue, muss ich feststellen, dass ich mich in dieser Zeit sehr wohl gefühlt habe. Als es meinen Eltern im Laufe der Jahre wirtschaftlich wesentlich besser ging, zog auch ein gewisser Wohlstand ein.

 

Das Tollste an dem ganzen Haus war nicht nur die Großräumigkeit, sondern wir hatten auch zwei Toiletten und ein für damalige Verhältnisse großes Badezimmer mit seegrünen Kacheln. Das war für mich das absolute Highlight, nachdem ich einige Jahre nur in der Zinkwanne gebadet worden bin und das Plumpsklo benutzen musste.

 

8.9. Der Garten

 

Das Grundstück meiner Familie war traumhaft. Wir besaßen einen Garten, so wie man ihn sich eigentlich in Romanen vorstellt. Es gab viele Obstbäume und eine große Garten-Anbaufläche für Gemüse. Der Garten wurde eigenständig von allen Familienmitgliedern in einem guten Zustand gehalten. Alle gängigen Gemüsesorten, einschließlich Kartoffeln und einige Kräuterarten, wurden eigenhändig angebaut, geerntet, und was nicht verbraucht wurde, wurde für den Winter als Vorratshaltung eingekocht, fermentiert oder gelagert.

 

In dem romantischen Teil unseres Gartens gab es Rosenbüsche, die an einer Art Pergola wuchsen. Es gab eine wunderschöne Sitzgarnitur aus bequemen Korbstühlen, die unter einem breiten Rosenbogen platziert war und zum gemütlichen Sitzen einlud. Auf dem gesamten Grundstück standen mehrere Bänke, mal mit Rückenlehne mal ohne. Auch eine große Rasenfläche war vorhanden. Einige eingebrachte Eisenrohre dienten zur Befestigung der Wäscheleinen, auf denen bei gutem Wetter die Wäsche getrocknet wurde. Sollte Bett- und Tischwäsche besonders weiß werden, so wurden die Teile bei strahlendem Sonnenschein zum Bleichen auf die Wiese gelegt.

 

Während des Krieges hat mein Großvater auf seinem Grundstück einen eigenen Bunker gebaut, damit meine Großmutter mit ihren Kindern und die direkten Nachbarn dort während der Bombenangriffe Schutz suchen konnten.

 

Für die anderen Häuser, die vereinzelt in der nahen und entfernten Gegend standen, hatte mein Großvater mit anderen Nachbarn zusammen an einem riesigen Bunker mitgebaut. Der wurde später Schlackenberg genannt. Unser Bunker wurde erst 1996 beseitigt, als das Grundstück meiner Großmutter verkauft wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war er immer in einem guten Zustand, d. h., er war trocken und sauber.

 

9. Birnenfest

 

Alljährlich trugen unsere prächtigen Birnenbäume, die unsern Garten zierten, große Mengen an Früchten, die zum Teil wie Trauben an den Ästen hingen. Die Bäume waren riesig und die Kronen überdimensional. Da etliche Zentner geerntet werden mussten, wir die Menge allerdings nicht alleine verzehren konnten, haben meine Eltern einige Nachbarn eingeladen, damit sie sich Vorräte zulegen konnten. Daraus entstand das Birnenfest.

 

Für das Zusammenkommen wurde ein schöner sonniger Tag ausgesucht. Die Frauen bildeten mit ihren Stühlen einen Halbkreis auf der Wiese. Jede von ihnen hatte eine kleine Badewanne mit Wasser vor sich und die Männer brachten Körbe voll mit gepflückten Birnen; und das Schälen der Früchte konnte beginnen.

 

Zum Ernten der Birnen kletterten die anwesenden Männer hoch in die Kronen der Bäume. Zuerst wurden die schönsten und größten Birnen, die im Keller gelagert werden sollten, mit der Hand gepflückt, damit sie keinerlei Druckstellen aufwiesen. Danach wurden die Äste kräftig geschüttelt und wir Kinder sammelten das Obst auf. Mein Vater, der daran nicht teilnehmen konnte, koordinierte das Geschehen von unten und gab immer wieder Tipps, wo noch dicke, reife Birnen hingen.

 

War eine Badewanne mit geschälten Birnenstücken voll, wurden diese in die Küche gebracht, nochmals gewaschen und in die schon vorbereiteten Einmachgläser gefüllt. Diese kamen auf eine Palette und anschließend in den Einkochkessel.

 

Dann ging es weiter mit dem Schälen, und die Vorgänge wiederholten sich einige Male.

 

Zwischendurch haben wir alle zusammen Kaffee getrunken und selbst gebackenen Kuchen gegessen.

 

Nachdem die Bäume so gut wie abgeerntet waren, war es auch schon Abend. Gemeinsam wurde der mitgebrachter Kartoffelsalat mit Würstchen und Mutters Frikadellen verzehrt und noch etliche Stunden der Ausklang des gelungenen Tages gefeiert.

 

Dieses Ritual haben wir einige Jahre mit lieben Nachbarn praktiziert.

 

10. Tierliebe

 

Ich bin sehr naturverbunden aufgewachsen, sodass ich schon als Kinder mit jedem Lebewesen sehr behutsam umging. Schon vor meiner Geburt gab es einen Hund im Haushalt meiner Eltern, unsere Alke, eine schwarze Langhaar-Teckel-Dame, die leider viel zu früh verstarb. Ich muss 9 Jahre alt gewesen sein, da kam unser Pitti zu uns, wieder ein Langhaar - Teckel, ein richtiger Draufgänger, der sich ebenfalls zu einem nicht wegzudenkenden Familienmitglied etabliert hat. Pitti ist fast 19 Jahre alt geworden und hat uns viel Freude gemacht.

 

 Tierliebe war in unserer Familie sehr ausgeprägt. Auf dem Grundstück meiner Großeltern gab es etliche Hühner, einen Hund und einige Katzen. Früher gab es wohl auch noch ein Schwein. Als dieses geschlachtet werden sollte, ist meine Oma morgens ganz früh in den Stall, hat das Schwein genommen und ist mit ihm weggegangen. Erst abends, als der Metzger weg war, ist sie mit dem Tier wieder gekommen. Sie konnte sich von keinem Tier trennen, auch wenn es zum Essen notwendig gewesen wäre.

 

Ich kann mich an keine Schlachtung erinnern. Die Hühner waren die letzten, die an Altersschwäche starben, alle hatten Namen und folgten meiner Oma auf Schritt und Tritt. Zwei von ihnen kamen regelmäßig in die Wohnung, hinterließen aber keinerlei unangenehme Spuren.

 

Katzen waren die Leidenschaft meiner Oma, so wurden alle Waisen aufgenommen und versorgt.

 

11. Kindheit

 

11.0.  Sprechen

 

Schon als Kind habe ich Geschehnisse und Menschen um mich herum stets genau beobachtet, was sich in meinem weiteren Leben fortsetzte. Bis zu meinem 2. Lebensjahr war ich allerdings sprechfaul. Außer Mama, Papa, Oma und Opa zu sagen, habe ich geschwiegen, soll aber nach Aussagen der Familie für jeden immer ein freundliches Lächeln gehabt haben.

 

Die gesamte Familie und alle uns nahestehenden Nachbarn waren in größter Sorge. Kurz nach meinem 2. Geburtstag fing an zu sprechen, und zwar sofort - zur Überraschung aller - perfekt, und mein Vater sagte später öfters zu mir gesagt: „Und dann hat dein Sabbel einfach nicht mehr stillgestanden.“ Denn von dieser Zeit an habe ich mich rege an Unterhaltungen beteiligt und war sehr wissbegierig.

 

11.1.  Kindliches Lernen

 

Sobald ich lesen konnte, haben meine Eltern mich ans Lesen herangeführt. Mein erstes Kinderlexikon habe ich geradezu verschlungen, ebenso war für mich stets Lesematerial in Form von Mädchenbüchern vorhanden. Meine Mutter hat viel mit mir gespielt, gebastelt und mir das Handarbeiten beigebracht, wenn es draußen regnete. Das Stricken lernte ich zuerst an der Strickliesel, aber schnell wurde mir diese Art langweilig und ich wollte andere Dinge herstellen. So begann ich das Häkeln von Topflappen, erlernte das Nähen, das Stricken und noch viele andere nützliche Dinge.

 

Meine Mutter hat viel Zeit mit mir verbracht, nur auf einem Gebiet konnte sie mir nicht helfen: Das Zeichnen und Malen, ich konnte es einfach nicht, was ich als einen großen Nachteil betrachte, trotz aller möglichen Versuche, es klappte nicht. Innerhalb unserer kleinen Familie haben wir viel miteinander gesprochen, bis auf das eine Thema, die Kriegsverletzung meines Vaters und die draus erwachsenen Folgen.

 

12. Spielen

 

12.0. Gemeinsame Unternehmungen

 

Wir Kinder haben immer viel zusammengespielt. Da es keine Türschellen gab, musste man überall anklopfen, oder wir haben vor der Haustüre gestanden und so laut den Namen der Freundin gerufen, bis endlich jemand ans Fenster kam. Dann wurde gefragt, ist diejenige zum Spielen da, und wenn ja, sind wir zusammen losgelaufen. Meistens war das Ziel unser Garten, weil es sich da wunderbar spielen ließ.  

 

Oder wir sind in die Felder hinaus, meist auch an unsere kleine Beeke, das war ein Bach, der hinterher in einem Tümpel endete. An dieser Beeke machten wir unsere Mutprobe: Wer kann da rüberspringen? Ich war immer die Erste, die reinfiel, da ich zu dem Zeitpunkt die Kleinste war. Allerdings ich bin danach nie direkt nach Hause gegangen, weil meine Mutter stets sagte: „ Ich mag keine schmutzigen Kinder!“ Das hieß nicht, dass ich mich nicht schmutzig machen durfte, aber dass ich wirklich mit Schlamm behaftet nach Hause kam, das mochte sie nicht. Der Boden der Beeke war meist schlammig. Jedes Mal, wenn ich wieder schlammig aussah, bin ich zu einer lieben Nachbarin gegangen, sie hat mir frische Kleidung bei meiner Mutter geholt und mich wieder trocken angezogen. Als ich anschließend nach Hause kam, habe ich immer noch gedacht, meine Mutter hätte nichts davon gemerkt. Diese Meinung war meiner kindlichen Naivität geschuldet. Denn die Erkenntnis kam rasch, spätestens beim abendlichen Gespräch darüber.

 

 12.1. Mädchenspiele im Freien

 

Wir haben uns vieles an Spielmöglichkeiten einfallen lassen. Das Spielen mit Puppen und Puppenwagen sowie der Kaufmannsladen standen immer auf dem Tagesplan, aber es gab noch andere Dinge, die uns Kindern Freude bereiteten. So haben wir in den Sommermonaten aus gesammelten Blumen Haarkränze, Halsketten und Armbänder geflochten. Oder wir haben zarte Blumen gepresst, d. h., sie wurden zunächst nach dem Pflücken zwischen zwei Zeitungsseiten gelegt und mit einem schweren Ziegelstein bedeckt. Nach einigen Tagen konnten sie wieder abgedeckt und ebenfalls zwischen zwei Löschblättern in ein Buch gelegt werden. Waren die Blümchen vollständig getrocknet, konnte man sie als kleine Geschenke hinter einem Glasrahmen oder als Beilage in einem Brief verwenden.

 

Ballspiele jeglicher Art waren an der Tagesordnung. Ebenfalls das Spielen mit einem Diabolo, das Fahren mit dem Roller oder den Rollschuhen.

 

In unserem Garten wurde an heißen Sommertagen eine große Zinkwanne auf die Wiese im Garten aufgestellt, diese wurde von meinem Vater mit dem Wasserschlauch gefüllt. Wenn wir mittags darin tobten, hatte das Wasser die richtige Temperatur.

 

 Das Klettern auf den großen Birnbäumen in unserem Garten war - zum Leidwesen meiner Eltern - eine Leidenschaft von mir. Dort habe ich mich auf einen dicken Ast gesetzt und in einem meiner Bücher gelesen.

 

Wir haben gehinkelt und mit Murmeln gespielt und untereinander Glanzbilder getauscht.

 

Eine beliebte Beschäftigung war das Turnen an der Teppichstange, aber auch das Versteckspiel sowie „Wir spielen Leichtathletik“, wobei Wettrennen, Weitspringen Ballwerfen und Astwerfen, durchgeführt wurde.

 

Wenn der Herbst Einzug hielt, die Blätter von den Bäumen vielen, haben wir Blätter von unterschiedlichen Bäumen gesammelt, diese gesäubert und getrocknet. Im Winter wurden Schlittenfahren, Schneeballschlachten und das Bauen eines Schneemannes zu einer schönen Freizeitgestaltung.

 

13. Russenkuhle

 

Auch das kleine Häuschen, in das wir gezogen waren, hatte ein recht großes Gartenstück hinter dem Haus.  Am Ende des Gartens stand auf einer angrenzenden Wiese ein riesiges Eisengitter. Dieses Eisengitter war mit dicken Schlössern versehen und mit entsprechend kräftigen Schrauben und Eisenketten gesichert.

 

Als ein Teil des Gitterzaunes eingerissen wurde, konnten wir zum ersten Mal auf diese Fläche, die dahinter lag. Eine vom Zaun ausgehende Wegstrecke von etwa 20 Metern führte über eine herrliche Blumenwiese, den Rand einer riesengroßen Kuhle, die ein immenses Ausmaß aufwies.

 

Ich hatte schon mal den Namen „Russenkuhle“ gehört, aber ich konnte mir absolut unter diesem Begriff und einer Russenkuhle nichts vorstellen. Diese Kuhle war bis in die Tiefe ausgebaggert, sodass nur noch Lehmboden sichtbar war, welcher im Sommer total eingetrocknet war und dadurch größere Risse auswies. Inmitten dieser Kuhle waren hohe Lehmberge[2], die auch über den Rand dieser Kuhle herausragten. Ein Zugang zur Kuhle war, wenn man dort hineingewollt hätte, nicht möglich gewesen, weil man dann mindestens 6 bis 8 Meter oder mehr in die Tiefe gestürzt wäre.

 

Deswegen hieß es immer vonseiten meiner Eltern, bloß nicht dahin gehen!

 

Wie bei Kindern üblich, war, besonders nach diesem Verbot, die Neugier geweckt. Wir wollten wissen, was sich dort verbergen könnte. Irgendwann haben wir in Erfahrung gebracht, dass man von der Oberhausener Seite zu ebener Erde leichter in diese Russenkuhle hineinkam. Es war inzwischen Winter geworden, und natürlich haben meine Freundin ich uns auf den Weg in die Kuhle gemacht. Wir freuten uns aufs Rodeln, weil eben dort die Berge waren. Als ich von meinem ersten Rodeltag nach Hause kam, gab es ein Donnerwetter, wie ich es noch nie in meinem Leben erlebt hatte, da ich es gewagt hatte, in diese Kuhle zu gehen. Ich wusste aber immer noch nicht, warum ich dort nicht hingehen durfte. Mir war nur aufgefallen, dass hinter der Russenkuhle Baracken standen. Das waren alte Holzbuden.

 

Mir wurde auch verboten, mich in deren Nähe zu begeben. Mein Vater erklärte mir nur, dass zur Nazizeit in dieser Russenkuhle wohl Zwangsarbeiter für große Firmen gehalten wurden; und dass die Kuhle wohl ein Schutz für sie war. Die Zwangsarbeiter hatten diese Kuhle mit Händen und Schippe ausheben müssen. Wenn die Bomben fielen, konnten sie da Schutz suchen, weil die Holzbaracken eben nicht genügend Schutz geboten hätten oder nicht schnell genug erreichbar gewesen wären. Mehr hat er nicht gesagt. Weiter habe ich noch ein wenig nachgehakt, und dann hieß es: Dieser hohe Gitterzaun habe immer dort gestanden, weil keine Kontakte zu den Anwohnern bestehen durften. Die Zwangsarbeiter seien alle so hungrig gewesen und immer, wenn sie jemanden gesehen hätten, wären ihre Hände durch diese Gitter gesteckt worden. Die Bewohner, die das mitbekamen, hätten den Zwangsarbeitern heimlich mit Brot oder was sie entbehren konnten versorgt. Es muss schrecklich gewesen sein.

 

Trotz des Donnerwetters bin ich mit meiner Freundin einige Tage später wieder zu dieser Russenkuhle gegangen, obwohl mein Vater eindringlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass es sein könnte, dass dort vielleicht noch Blindgänger liegen würden. Wir sollten nicht reingehen, aber irgendwie habe ich mich auch durch die Jungs und Mädels, die schon anwesend waren, verleiten lassen und bin runter. Wenn man da unten stand, kam man sich vor, als sei man ein kleiner Zwerg. Wir sind durch die gesamte Russenkuhle gelaufen und auf einmal entdeckten wir, ungefähr in der Höhe der heutigen A40, dass dort zwei Zugänge zu wohl ehemaligen Bunkern waren. Bei einem war der Zugang verwinkelt und der Mauerbau intakt. Ein Gang führte direkt vor eine dicke Eisentüre, die noch mit einem verrosteten Schloss versehen war. Der andere Bunker war einfach nur mit morschen Holzbrettern am Eingang verschlossen. 

 

Die ersten Jungs sind dort rein, kamen schreiend wieder heraus und haben uns dadurch in Angst und Schrecken versetzt. Vor Entsetzen sind wir fortgelaufen.

 

Wir wollten aber nicht als Angsthasen gelten und sind wieder zurückgegangen. Die Jungs sind wieder in diesen Stollen hinein und fanden Gebeine. Sie schrien: „Hier sind Köpfe, Unterschenkel, Hände.“ Ich bin total entsetzt nach Hause gelaufen, und weil ich verstört war, habe ich das auch zu Hause erzählt. Meine Eltern waren fassungslos und erteilten mit allem Nachdruck ein erneutes Verbot: Du gehst nie mehr in die Russenkuhle! Aber, irgendwie war eine solche Neugierde in mir vorhanden, und bin einige Wochen später erneut in die Kuhle. Die Eingänge zu den Bunkeranlagen waren nicht mehr vorhanden. Wahrscheinlich haben andere Kinder den Vorgang zu Hause ebenfalls erzählt. Vielleicht haben sich auch einige Elternpaare kurzgeschlossen und für Abhilfe gesorgt. Ich weiß es nicht. Später wurde mir erzählt, wir hätten uns geirrt, es seien alles Knochen von einem verendeten Tier gewesen.

 

Der andere Schacht, der mit dem dicken Schloss und dem massiven Eisentor versehen war, war nach diesem Ereignis auf einmal zugängig. Wir konnten durch den Eingang ein kurzes Stück in den Vorraum des tiefen Stollens rein, und das war wohl, wie man mir später erzählt hat, der Bunker für die zwei oder drei Häuser und dem Bauernhof, der nicht weit davon entfernt, lag so eine Art Privatbunker, und dieser ist dann innerhalb von ein paar Tagen zugemauert worden.

 

14. Essenhilfe für Kriegsversehrte

 

Es gab Mitte der 50er-Jahre eine Zeit, da kamen immer wieder Kriegsversehrte zu uns, deren Anblick mich jedes Mal sehr erschüttert hat. Sie kamen schwerfällig auf Krücken gestützt und in zerrissener Kleidung zu uns und bettelten um Essen. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie diese Menschen den weiten Weg auf sich genommen haben, um letztendlich in diese Einöde zu gelangen. Meine Eltern und Großeltern haben dann immer geholfen, wo sie konnten. Es hatte sich wohl rumgesprochen, dass man bei uns etwas bekam. Meine Eltern und einige Nachbarn, die direkt neben uns wohnten, haben sich zusammengetan und einmal in der Woche den armen Menschen etwas Essbares gereicht. Es waren 5 bis 7 Personen, die über einige Wochen erschienen. Eine Frau hat Brot gebacken, eine andere einen Kuchen, es wurde eine Suppe gekocht, und dann wurden die Leute im Garten bewirtet. Das hat mich immer sehr nachdenklich gemacht, warum diese Menschen, die in einem Krieg waren, nicht vernünftig versorgt wurden. Aber, wie es eben früher in den Familien so üblich war, richtige Antworten darauf bekam man nicht, auch wenn man die Fragen gestellt hat. Nach ein paar Wochen kamen keine Bettler mehr.

 

15. Baracken

 

Die Baracken wurden von Menschen bewohnt, die sehr erbärmlich lebten. Sie hatten in den ersten Jahren nach dem Krieg keinen Strom, ich glaube, der kam erst so ab 1957/1958, als dort eine Überlandleitung verlegt wurde. Die Verhältnisse waren so armselig. Sie liefen z. B. mit Eimern rum, um ihre Exkremente auf den Acker zu entsorgen. Wenn wir die Kinder sahen, begegnete uns das reinste Elend.

 

 15.0. Weiterentwicklung der Baracken

 

Irgendwann waren auf einmal diese Baracken unbewohnt. Wo all diese Menschen geblieben sind, weiß ich nicht. Nach kurzer Zeit kam ein unwahrscheinlich großer Zuzug von neuen Menschen. Meine Mutter erklärte mir, dass seien alles Menschen, die im Krieg ihr Hab und Gut verloren hätten und finanziell schlecht gestellt seien. Ihnen hatte das Leben übel mitgespielt, sodass sie nicht in der Lage wären, für ihre Miete selber aufkommen zu können, und somit die Unterkunft von der Stadt bezahlt würde.

 

Allmählich verbesserte sich dieser Aufenthaltsort, denn es war sicherlich nicht leicht, mit vielen Menschen auf engsten Raum zusammenwohnen zu müssen. Die Baracken wurden gestrichen und es leuchtete das Weiß der Fensterrahmen, welches man von Ferne sehen konnte.

 

Es gab immer noch keine Bürgersteige oder eine richtige Abgrenzung zur Straße. Die Asphaltierung der Straße ließ noch recht lange auf sich warten. Regnete es kräftig, war der Boden matschig, schien lange die Sonne, war er hart wie Beton und staubte ohne Ende.

 

Anstelle von elektrischen Straßen-Laternen standen in großen Abständen Gaslaternen, welche in den frühen Abendstunden durch den sogenannten Nachtwächter angezündet und im Morgengrauen wieder gelöscht wurden. Die Laternen gaben nur geringe Helligkeit ab, was eine extreme Finsternis zur Folge hatte und die gesamte Gegend gespenstig erscheinen ließ. Die Lichter gaben eher einen Hinweis zur Orientierung.

 

Es hat auch keine Frau gewagt, in dieser Dunkelheit auf die Straße zu gehen, es war ein - für unsere heutigen Verhältnisse - eigenartiges Leben. Wenn man in Richtung Baracken lief, war es so finster, dass man meinte, man fällt in ein schwarzes Loch. Es hielt sich das Gerücht, dass auch einige Kriminelle in diesen Baracken lebten. Ob dies stimmte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, es ist nie etwas in unserer Gegend an kriminellen Handlungen geschehen.

 

 Am anderen Ende der Straße Bauerfeld in Oberhausen Richtung Danzigerstraße, wo sich der Schlackenberg[3] befand, standen einige aneinandergereihte Steinbauten in denen Obdachlose und Familien aus nicht guten sozialen Verhältnissen untergebracht waren, von denen eine große Lärmbelästigung ausging. Dadurch herrschte unter den Anwohnern der wenigen Häuser in unserer Umgebung, trotz des relativ großen Abstands zu uns, eine gewisse Sorge. Nach einigen Jahren wurde diese kleine Ansiedlung aufgelöst. 

 

Wir Kinder konnten dann zum ersten Mal – da war ich 12 oder Jahre alt – den Schlackenberg besteigen, um einmal das Gefühl der Höhe zu bekommen, welches Bild sich auf der begrünten Fläche dort oben bot.

 

Zuvor galt für mich das Verbot, diese Gegend zu meiden.

 

Es wurden früher auch gewisse Sicherheitsvorkehrungen für die Wohnung getroffen.

 

So hatten meine Eltern und Großeltern an unseren Häusern Blenden aus Holz vor den Fenstern, Rollläden gab es nicht. Mein Opa hatte nicht nur von außen die Blenden angebracht, sondern selbst innen befanden sich welche, damit die Fenster doppelt gut abgesichert waren. Auch die Haustüren wurden abends fest zugeschlossen. Auch dort waren zur Sicherheit Zusatzriegel angebracht. Wir hatten ja alle nur das Plumpsklo und wenn jemand nachts die Toilette aufsuchen musste, ging jedes Mal jemand als Begleitung mit.

 

16. Wohnsituation in den 50er-Jahren

 

16.0 Kein Telefonanschluss

 

Wir, die direkt an der Grenze Oberhausen/ Mülheim auf Mülheimer Gebiet wohnten, hatten in den 50er-Jahren nicht mal die Möglichkeit, einen Telefonanschluss zu bekommen. Wurde ein Familienmitglied von uns bettlägerig krank, musste mein Vater oder meine Mutter in die Stadt nach Oberhausen laufen und einen Arzt zum Hausbesuch bitten. Das war für Hin-und Rückweg weit über eine Stunde Zeitaufwand, um den Arzt zu benachrichtigen und ärztliche Hilfe zu bekommen. Mussten Kohlen bestellt werden, blieb auch nur der persönliche Weg zum Kohlenhändler, um die erforderliche Menge zu ordern. Zwei Tage später kam er mit seinem Pferdefuhrwerk und lieferte die Kohlen aus. Bestellte man sie in Säcken, brachte er sie in den Keller, was extra honoriert wurde. Nach Mülheim wäre der Weg zu laufen noch aufwendiger gewesen. Das war unsere Lebenssituationen.

 

 16.1. Verbesserung der Infrastruktur

 

Was ich als sehr positiv ansah: Wir hatten eine Schule in der Nähe, der Weg dorthin dauerte nur 5 Minuten. Auf dem Schulweg kamen wir an zwei Häusern vorbei. Die Schule stand neben dem 3. Haus. Wir Mädels haben uns immer an einer Ecke getroffen und sind gemeinsam zur Schule gelaufen. Dann allmählich,  so ab Beginn der 60-er Jahre, wurde viel gebaut. Auch unsere Situation in unserer Straße änderte sich: Die Kanalisation wurde gelegt, die Straße ausgebaut, Telefonleitungen gelegt.

 

16.2. Noch heute weiter Weg

 

Trotzdem haben wir bis heute noch keine vernünftige Anbindung an die Infrastruktur in Form von Bus oder Bahn. Wir haben zwar jetzt in Mülheim Dümpten das fantastische Einkaufszentrum am Heifeskamp, die Metro, Aldi, und alle möglichen Geschäfte, aber wir haben keine Anbindung öffentlicher Verkehrsmittel von der Straße, in der ich groß geworden bin. Wir müssen noch rauf bis zur Mellinghofer Straße laufen, um an eine Straßenbahn Haltestelle zu kommen, die in die Innenstadt von Mülheim fährt. Auch bis zur Bus Haltestelle nach Oberhausen ist es ein Gehweg von etwa 20 Minuten. Somit ist man ständig auf ein Auto angewiesen, besonders, wenn größere Einkäufe anstehen. Nichtsdestotrotz ist Wohngegend noch heute ansprechend und angenehm.

 

 

17. Besuch in den 50er-Jahren

 

Heute – im Zeitalter der Digitalisierung – ist es nur schwer vorstellbar, wie Verabredungen zu Besuchen ohne Telefon, Handy, WhatsApp oder E-Mail möglich waren. Dennoch wurden Freundschaften und Nachbarschaften regelmäßig gepflegt und auch die Verwandten kamen dabei nicht zu kurz.

 

Es war üblich, dass die engsten Freunde und Verwandten zum Geburtstag ohne jede Form der Einladung erschienen, dieses war ein Ritual, welches sich verselbstständigt hatte, und bedurfte auch keiner besonderen Ansprache.

 

 

17.0. Vorbereitung für den Besuch

 

Ein bis zwei Tage vor dem Besuch begann meine Mutter emsig mit den Vorbereitungen. Kuchen wurden gebacken, alle Zutaten für die zu der Zeit üblichen Schnittchen (das waren Brotscheiben belegt mit Wurst, Käse und mit Gürkchen und Ei garniert) wurden besorgt. Diese sogenannten Schnittchen gab es zum Abendbrot. Als Getränke wurde immer eine Bowle für die Damen angesetzt, die Obstsorten waren der Saison angepasst. Das Eierlikörchen durfte unter gar keinen Umständen fehlen und für die Männer war immer das Bier im Keller kaltgestellt.

 

Es waren immer sehr lustige und fröhliche Zusammenkünfte, bei denen gesungen und getanzt wurde, und ein Onkel spielte auf dem Schifferklavier oder der Gitarre. Wir Kinder durften bei besonderen Anlässen etwas länger aufbleiben und haben lauthals mitgesungen. Hatten natürlich auch unseren Spaß daran, dass der Alkohol seine Wirkung zeigte. Jedenfalls ist niemand ausfallend oder beleidigend geworden. Bei der Verabschiedung wurde sich herzlichst umarmt, jeder drückte aus, wie schön der Tag und Abend war und wie sehr man sich auf das nächste Zusammentreffen freute.

 

Zu erwähnen sei noch, dass jeder Gast, aber auch die Gastgeber, sich immer mit ihrer Sonntagskleidung rausgeputzt hatten. Uns Kindern brachten die Gäste immer Süßigkeiten mit, worauf wir uns schon lange im Vorfeld gefreut haben. Wenn bei solchen Feiern mehrere Kinder anwesend waren, wurde für uns ein Extratisch gedeckt, und wir konnten dann auch rumalbern, ohne einen strafenden Blick zu erhaschen. Zu angemessener Zeit musste ich ins Bett und machte mich dann über die Mitbringsel her.

 

 

17.1. Spontane Besuche

 

Eine große Leidenschaft meiner Großmutter väterlicherseits waren spontane Besuche, zu denen sie mich meistens mitnahm. So konnte es sein, dass es zu einer Nachbarin in der Nähe, einer guten Bekannten oder Familienangehörigen ging. Überall waren wir herzlich willkommen, denn Gastlichkeit wurde sehr großgeschrieben. Auch wenn nichts Besonderes aufgetischt werden konnte, eine Tasse Kaffee und ein paar Kekse reichten schon. Hauptsache, man hatte sich wieder einmal gesehen. In der Regel wurde dann noch der Schuhkarton hervorgeholt und die alten Familienbilder angeschaut, und man hat sich köstlich amüsiert. So einfach war das.

 

17.2. Wirtschaftlicher Aufschwung

 

Als es allen wirtschaftlich besser ging, zeigte sich dies auch an dem reicher gedeckten Tisch. Anstelle der Schnittchen gab es belegte Brötchen, Mett, Kartoffelsalat mit Brühwürstchen, Käse-Igel und garnierte Eierhälften, und nicht zu vergessen, die selbst gemachten Frikadellen und der Krabbencocktail.

 

Wollten meine Eltern ohne einen bestimmten Grund Freunde einladen, was ab 1957 bei uns öfter vorkam, wurde es schon komplizierter, denn die Einladung musste über den Postweg erfolgen, oder man ging bei demjenigen vorbei und sprach seine Einladung aus. Eine andere Möglichkeit hatten wir nicht, denn es gab in unserer Gegend zur damaligen Zeit noch keine Telefonanschlüsse, denn Leitungen dafür waren nicht vorhanden.

 

 

17.3. Besondere Anlässe

 

Bei besonderen Anlässen wie Hochzeit, Taufe, Konfirmation und Kommunion wurde am ersten Tag ganz groß im Familienkreis gefeiert. Am Tag zwei kam die Nachbarschaft geschlossen. Die Hausfrauen standen schon Tage vorher bis in die Nächte in der Küche. Salate, Braten und Torten wurden vorbereitet. Es duftete im ganzen Haus, Gerüche, die ich niemals vergessen habe. Nach den Feierlichkeiten erfolgte das Resteessen. Jedenfalls haben wir damals schon verstanden, so richtig abzufeiern und zu schmausen.

 

Das Größte für uns Kinder war der Kindergeburtstag. Ich durfte etliche Freundinnen einladen, und meine Mutter hat eine Menge Leckereien und Spiele vorbereitet. Zunächst labten wir uns an den Köstlichkeiten, dann folgten die Spielstunden, bei denen es hoch herging. Für die Gewinner gab es kleine Preise, und zum Abschluss des Tages ging jedes Kind mit einer Überraschungstüte stolz nach Hause. Die Kinder, die etwas weiter entfernt wohnten, wurden von ihren Vätern abgeholt. So kam es dann auch wieder zu einem kleinen Treffen der Erwachsenen.

 

17.4. Kondolenz Besuche

 

Zu den traurigen Angelegenheiten gehörten leider die Kondolenzbesuche, wenn ein Nachbar oder eine Nachbarin verstorben war. Es war damals üblich, dass der Leichnam in seiner Sonntagskleidung feierlich in seiner Wohnung aufgebahrt war. Bei diesen Besuchen wurde zur Beerdigung mit anschließendem Leichenschmaus, auch Raue genannt, eingeladen. Es wurde in der Nachbarschaft für einen Kranz gesammelt, was immer zwei Frauen übernahmen. Mit anderen Worten, das Wort Begegnung wurde auch hier ganz großgeschrieben.

 

 

18. Sparen

 

18.0. Meine erste Spardose.

 

Schon als Kleinkind habe ich gerne das bisschen Geld, welches ich manchmal geschenkt bekam, gespart.

 

Meine Spardose war ein kleiner gelber Briefkasten, den mein Vater bei der Post erworben hatte. Als ich ihn geschenkt bekam, hatte er ihn schon mit einigen Groschen bestückt.

 

Mensch war ich stolz darauf. Meine Eltern haben diese Spardose auch in meinem Besitz gelassen und keine Kontrollen ausgeführt, sie haben auf meine Ehrlichkeit gesetzt, nichts, ohne ihr Wissen, zu entnehmen.

 

Taschengeld konnten sie mir nicht regelmäßig geben. Mein Großvater und meine Omas gaben mir hin und wieder ein paar „Taler“ und meine Eltern ebenfalls. Manches Mal bekam ich auch von unseren Besuchern eine kleine Summe.

 

18.1. Spar Klub.

 

In unserem Lebensmittelgeschäft, einem Tante-Emma-Laden, gab es einen Spar-Club. An der Wand neben der Eingangstür hing ein Sparkasten. Natürlich wollte auch ich Mitglied des Sparklubs werden, obwohl ich zu Hause meine Spardose hatte. Mir wurde in der letzten Reihe das letzte Fach des Sparkastens zugeteilt, damit ich gut mein Spargeld dort einwerfen konnte, auch wenn es am Anfang schwierig war, denn es fehlten mir noch einige Zentimeter an meiner Größe. Meine erarbeiteten Groschen, manchmal war es auch 1 DM, zahlte ich dort ein und auch später einen Teil meines Taschengeldes. Ich hatte mir überlegt, dass ich so immer Geld zur Verfügung hatte, um meinen Lieben zu Weihnachten eine Freude bereiten zu können. Für Geburtstage und Muttertag hatte ich meine Spardose als Reserve. So habe ich es über viele Jahre gehandhabt.

 

18.2. Sparmarken

 

Als ich eingeschult wurde, konnten wir Schüler ab dem 2. Schuljahr einmal monatlich Sparmarken erwerben. Ich bin jeden Monat mit meinem Geld stolz zur Lehrerin gegangen und habe mir pro 1 Mark 10-Pfennigmarken gekauft. Damit konnte man die Sparkarten der Sparkasse Oberhausen voll kleben. Am Weltspartag, im Oktober eines jeden Jahres, konnte man den Betrag auf sein Sparbuch einzahlen. Ich habe schon mit knapp 8 Jahren mein erstes Sparbuch gehabt und auf dieses einmal jährlich das Geld der Karten eingezahlt. Die Summen, die eingezahlt wurden, läpperten sich zusammen, zumal ich auch Geld aus meiner Spardose regelmäßig auf mein Sparbuch einzahlte. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass ich bis heute immer eine finanzielle Sicherheit brauche.

 

19. Taschengeld aufbessern.

 

19.0. Schrottsammeln

 

 Da meine Freunde, Freundinnen und auch ich kein Taschengeld hatten, haben wir Kinder uns einiges einfallen lassen, wie wir zusätzlich ein paar Groschen für Süßigkeiten bekommen könnten. So haben wir eine Schubkarre genommen, die bei uns im Stall stand, und sind losgezogen um Blechdosen, Eisen, Metallkabel und alte Nägel zu sammeln. Wenn die Karre voll war, sind wir mit unseren Funden zum Schrotthändler gegangen. Alles zusammen kam auf eine große Waage und der gute Mann nannte uns die Summe, mit der ich aber schon beim ersten Mal nicht einverstanden war.

 

Tagelang habe ich mir die Frage gestellt: Warum wiegt er bei uns Eisen genauso wie Blech zum gleichen Preis?

 

Da er seinen Schrottplatz in unserer Nachbarschaft hinter hohen Toren betrieb, habe ich ihn beobachtet und gesehen, dass, wenn Männer kamen, er das Wiegen unter einer anderen Prämisse vornahm. Die Materialien wurden von ihm aussortiert und getrennt gewogen sowie separat je nach Beschaffenheit bezahlt.

 

Bei unserer nächsten Schubkarre, die wir voll hatten, bin ich hin und habe gesagt:  "Moment, Eisen kommt alleine auf die Waage, Blech ebenfalls, Draht und Nägel auch gesondert.“ Es gab zwar eine lange Diskussionen, ich habe mich aber durchgesetzt, und wir bekamen tatsächlich mehr Geld. Der Erlös wurde immer redlich unter uns aufgeteilt, denn wir Kinder waren eine fest eingeschworene Gemeinschaft. War der Erlös nicht so groß, haben wir die von dem Geld erworbenen Süßigkeiten ebenfalls ehrlich geteilt.

 

 

19.1. Tante-Emma-Laden

 

In unserem Lebensmittelgeschäft, einem Tante-Emma-Laden, wurden die Schaufenster in regelmäßigen Abständen neu dekoriert. Da ich die Inhaber sehr gut kannte, habe ich gefragt, ob ich beim Ausräumen der Schaufenster mit Hand anlegen dürfte. Zunächst habe ich die Fenster einige Male ausgeräumt und gesäubert. Für diese Tätigkeit wurde ich jedes Mal mit ein paar Groschen und einige Süßigkeiten entlohnt.

 

Als Nächstes durfte ich die Schaufenster in unserem Tante-Emma-Laden sogar dekorieren, was mir wahnsinnig viel Freude bereitet hat. Das haben die Ladenbesitzer mir einfach frei überlassen wie ich es gestaltete, sie haben mir nur die Waren, meistens Konserven, hingestellt. Zu diesem Zeitpunkt war ich ungefähr 10 /11 Jahre alt. Ich habe nach einiger Zeit festgestellt, Menschenskind, da kannst du ja ganz gut was für dein Taschengeld tun, und so bin ich regelmäßig hingegangen.

 

19.2. Verkaufen von Lebensmitteln.

 

Mittlerweile war das mir entgegengebrachte Vertrauen so groß, dass ich auch manches Mal verkaufen durfte. Früher hatte ich den Kaufladen in der Wohnung, nun stand ich auf einmal hinter einer richtigen Theke.

 

Zum damaligen Zeitpunkt wurden die Hühnereier noch nicht in einer Kühltheke gelagert, sondern sie standen meistens in einem Korb auf der Theke. Immer wieder kamen Hausfrauen und beklagten sich über faule Eier und bekamen dann Ersatz. Eines Tages stand im Geschäft ein elektrisches Gerät, mit dem man die Hühnereier durchleuchten konnte. War das Ei nicht mehr in Ordnung, zeigte sich in der Mitte des Eies ein schwarzer Punkt und wurde aussortiert. Ich fand es toll, dass ich diese Aufgabe übernehmen durfte.

 

Alles, was an Lebensmitteln gängig war, wie Mehl, Zucker, Salz, Grieß usw., stand in grossen Säcken bereit. Mit einer Schippe wurde die gewünschte Menge entnommen, in eine Papiertüte gegeben und abgewogen. Auch diese Tätigkeiten durfte ich ausführen. Ebenfalls habe ich Regale ausgeräumt und ausgewischt.

 

19.3. Ende im Tante-Emma-Laden

 

Meiner Mutter waren diese Tätigkeiten nicht recht und wollte, dass ich damit aufhörte. Als Argument meinte sie, dass ich Kinderarbeit leisten würde. Meinen Eltern war nicht wohl dabei. Aber, das war so schön für mich, ich hatte dadurch auch sehr viel Kommunikation mit Leuten, fühlte mich wohl und in keiner Weise überfordert. Ich habe dafür gesorgt, dass eine Freundin, die ganz wenig Taschengeld hatte, mir helfen durfte. Diese war überglücklich, dass sie ihr Taschengeld aufbessern konnte.

 

Mein Opa beendete die Situation mit einem einzigen Satz:“ Das Kind braucht jetzt endlich ihr eigenes Taschengeld“! Meine Oma Hertha (mütterlicherseits) stimmte seiner Meinung zu. Von dem Moment an bekam ich von beiden wöchentlich einen festen Betrag, manchmal auch ein bisschen mehr. Von Jahr zu Jahr wurde eine Erhöhung vorgenommen, was mich riesig freute.

 

19.4. Langsamer Wohlstand

 

Jeder zunehmende Fortschritt, der sich natürlich auch in unserer Familie vollzog, zeigte sich u. a. in der Anschaffung eines elektrischen Bügeleisens. Man hatte ja früher noch die eisernen Bügeleisen, die auf dem Kohleherd aufgeheizt wurden, so richtig klobige, schwere Dinger. Meine Hilfe wurde von meiner Oma gerne angenommen, denn ich bügelte ihr die Taschentücher.

 

Meine Eltern freuten sich über jede neue Anschaffung. Ein Staubsauger hielt Einzug und erleichterte die tägliche Reinigung. Mussten endlich die Teppiche nicht mehr wöchentlich über die Teppichstange geschwungen und mit dem Teppichklopfer bearbeitet werden.

 

So ging es langsam immer weiter, ein Elektroherd, neue Lampen und Gardinen sowie Bilder verschönerten unser Heim. Beim Kauf von Schuhen und Kleidung wurde auf gute Qualität Wert gelegt.

 

Auch der geplante Hausbau war häufig ein Gesprächsthema, sowie ebenfalls der Kauf von neuem Mobiliar.

 

 

 

20. Schulzeit

 

20.0. Einsame Wohngegend

 

An unserer Straße standen 5 Häuser, und im angrenzenden Teil von Oberhausen waren es mit geräumigem Abstand 6 Häuser. Ebenfalls bis zur Stadtmitte Oberhausen war auf den ersten 2 Kilometern die Bebauung noch spärlich. Es gab zwischen den wenigen Häusern viele freie Flächen, die meist von hohen Hecken eingezäunt waren. Es war recht einsam, meine Eltern wollten nicht, dass ich diesen Wegen alleine ausgesetzt würde. Dies wurde auch zu meiner Schulzeit zu einem Problem mit dem Schulbesuch, da ich normalerweise in Mülheim Oberdümpten zur Schule hätte gehen müssen. Der Weg nach Mülheim gestaltete sich noch einsamer, da der Weg im ersten Abschnitt - etwa ca. 30 Minuten - nur durch Felder verlief. Die Volksschule war ganz in unserer Nähe. Der Weg von unserer Wohnung bis zur Schönefeld Schule betrug höchstens 5 Minuten, was zur Folge hatte, dass meine Eltern einen Antrag in Oberhausen stellen mussten, damit die Erlaubnis für den anstehenden Schulbesuch eingeholt werden konnte.

 

 

 

20.2. Genehmigung für Schulbesuch

 

Also haben sie in Oberhausen einen Antrag gestellt, damit ich dort die Schönefeld Schule besuchen konnte, die nur wenige Gehminuten von unserer Wohnung entfernt war. Im Herbst 1955 ging meine Mutter mit mir zum dortigen Rektor, dieser sprach zunächst mit meiner Mutter und anschließend mit mir. So wollte er wissen, ob ich gerne zur Schule gehen möchte und ob ich schon schreiben könnte. Ich musste eine Blume zeichnen und einige kleine Rechenaufgaben lösen: 1+3, 4-2 usw. Ferner fragte er mich nach persönlichen Dingen, z. B. wie oft ich meine Hände waschen würde, wie die Fingernägel auszusehen hätten, wann ich abends ins Bett müsste. Während der gesamten Zeit war er uns freundlich zugewandt. Zum Schluss sah er sich meine Hände an und danach konnten wir, mit dem Hinweis, meine Eltern bekämen Bescheid, wieder gehen.

 

Noch 2 Wochen in Ungewissheit vergingen und schließlich kam die Nachricht, dass ich in Oberhausen zur Schule gehen konnte, was innerhalb der Familie mit einer großen Erleichterung aufgenommen wurde. Somit hatte ich nur einen Schulweg von knapp 5 Minuten und fieberte dem Tag meiner Einschulung entgegen, der war endlich 1956 nach den Osterferien.

 

 

 

20.3. Einschulung

 

Für diesen für mich besonderen Tag hatte ich einen edlen Tornister in mittelbraunem Leder bekommen und war richtig stolz, als ich ihn über meine Schultern aufsetzte. Meine Mutter hatte mir viele Tafelläppchen aus weißer Baumwolle gehäkelt. Eines davon hing an einer ebenfalls gehäkelten Schnur außerhalb des Tornisters und tanzte bei jedem meiner Schritte hin und her.

 

In dem Tornister befand sich meine Schiefertafel, die in einer Schutzhülle war, ein Gummidöschen mit einem nassen Schwämmchen zur Reinigung der Tafel. Außerdem eine Griffeldose mit entsprechenden Griffeln sowie meine Fibel (Lesebuch).

 

Zur damaligen Zeit war es so, dass nur ein Elternteil das Kind zur Einschulung begleitete. Somit bin ich mit meiner Mutter zur Schule gegangen und wurde sofort in meinen zukünftigen Klassenraum geführt und war total enttäuscht, denn ich hatte mir meine Schulklasse ganz anders vorgestellt. Jedenfalls nicht so, wie das, was mich dort erwartete.

 

Als ich meinen Sitzplatz in einer pultartigen Sitzbank für 2 Schüler in Augenschein nahm, konnte ich es nicht fassen, ein so zerkratztes, mit Tintenflecken und anderen Schmierereien versehenes Teil nun jeden Tag als meinen Lernplatz ansehen zu müssen. Ich wollte sofort wieder mit meiner Mutter die Klasse verlassen, aber sie redete beruhigend auf mich ein und erklärte mir, dass es an allen Plätzen gleich sei.

 

 

 

Der schräge Deckel des Pults konnte hochgeklappt werden, um dort das Pausenbrot aufheben zu können, auch darin sah es fürchterlich aus. Die Lehrerin fragte, was ich denn hätte, da habe ich gesagt: „Nein, in so einer schmutzigen Schule möchte ich nicht sein.“ Als Reaktion bekam ich von ihr meinen ersten Rüffel und musste mich wieder setzen.

 

 

 

Danach mussten die Mütter und Väter die Klasse verlassen. In den nächsten beiden Stunden wurden uns Verhaltensregeln, Stundenplan und andere Dinge erklärt. Fortan an so einem verschmutzten Platz sitzen zu müssen, hat mich die gesamte Zeit beschäftigt. Meine Stimmung besserte sich erst, als meine Mutter mich mit einer großen Schultüte abholte, die ich andächtig nach Hause getragen habe, denn nun konnte jeder sehen, dass ich eine Schülerin war.

 

 

 

Vor der Schule wurden von einem Fotografen noch Bilder gemacht, die einige Tage später in seinem Atelier abgeholt werden konnten.

 

Meine Schultüte bestand aus grüner, glänzender Pappe mit einigen Bildern drauf, die oben mit hellem Krepppapier zugebunden war. Gefüllt war sie mit Süßigkeiten, Buntstiften und einem Ledermäppchen für Füller, Bleistifte, Radiergummi, Anspitzer usw.

 

 

 

20.4. Schönefeld Schule

 

Es war eine sehr kleine und alte Schule mit 4 Klassenzimmern und einer Aula im alten Teil der Schule und einem Anbau für die höheren Klassen. Die Aula wurde ebenfalls als Klassenzimmer genutzt, wenn keinerlei andere Aktivitäten stattfanden. Zwar hatte die Schule ein großes Portal zur Straßenseite, aber wir gingen durch einen Seiteneingang hinein. Dies war ein aus Glasbausteinen bestehender lang gezogener Gang mit Überdachung an dessen Ende die Toiletten für uns Schüler und das Lehrerkollegium waren. Zum Schulhof hin war der Gang wie eine Arkade zum Schulhof offen.

 

Jeden Morgen zum Schulbeginn und nach der täglichen großen Pause haben wir uns auf dem Schulhof nach dem Läuten - unserer Klassenzugehörigkeit entsprechend -in Zweierreihen aufgestellt. Danach wurden wir von unserem Lehrpersonal in die Klasse begleitet. Die Klassenräume waren durch hohe und zahlreiche Fenster hell und hatten hohe Decken, wirkten aber alle sehr alt. Ich bin immer gerne zur Schule gegangen, war stets wissbegierig, und das Lernen machte mir Freude, was sich in meinen guten Noten wieder spiegelte.

 

 

 

20.5. Lehrerkollegium

 

Unsere Lehrer an der Schule waren alle schon nahe am Rentenalter, dies galt vom Rektor bis zum gesamten Kollegium.

 

Die Lehrerin, die bei der Einschulung unsere Klasse übernahm, unterrichtete uns nur eine kurze Zeit. Sie wirkte streng, hatte ständig den Zeigestock in der Hand und angekündigt, dass derjenige, der nicht folgt, den Unterricht stören sollte oder seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, diesen Stock zu spüren bekäme. Nach etwa 3 Wochen hieß es, sie sei erkrankt. Sie kam nie wieder und auch nicht die Drohgebärden mit dem Zeigestock. Zum Austausch bekamen wir einige Monate später eine neue Klassenlehrerin, die wir Schüler alle auf Anhieb mochten. In der Übergangszeit hielt meistens unser Rektor den Unterricht ab.

 

 

 

20.6.  Mein erstes Aufbegehren.

 

Was ich zu Beginn meiner Schulzeit als sehr unangenehm empfunden habe, das war die negative Herausstellung eines Einzelkindes. Wir waren in der Klasse drei Schülerinnen ohne Geschwister. Mir war nicht erklärlich, warum das von den älteren Lehrern in regelmäßigen Abständen erwähnt wurde. Sie vertraten die Ansicht, dass Einzelkinder sich einbildeten etwas Besonderes zu sein, sie könnten nicht teilen, da sie nicht gelernt hätten, was es bedeutet, in der Gemeinschaft einer Großfamilie zu leben.

 

Meine Eltern haben mir soziales Engagement, Respekt vor anderen Menschen, Tierliebe, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Freundlichkeit und gutes Benehmen beigebracht und vorgelebt.

 

Und dass, obwohl ich ein Einzelkind war!

 

Nun sollte ich erfahren, dass mir alle diese Eigenschaften von den Lehrern abgesprochen wurden.

 

 

 

Eines Tages war ich es leid. Ich stand auf und stellte mich vor den Lehrer (unserem Rektor) und machte meiner Empörung Luft. Ich fragte ihn ganz ruhig, wo er seine Augen gehabt hätte, als ich mein Pausenbrot immer wieder zur Hälfte einem Schulkameraden gegeben hätte. Außerdem würde ich immer wieder meinen Kakao teilen, ich mein Obst abgeben würde und was ich außerhalb der Klassengemeinschaft täte, könnte er nicht wissen. Ich bat ihn, diese Worte nicht mehr zu wiederholen. Dann habe ich mich auf meinen Platz begeben.

 

 

 

20.7.  Jüngeres Lehrerkollegium

 

Nach dem 2. Schuljahr wurde das gesamte Lehrerkollegium innerhalb kurzer Zeit ausgewechselt, was bedeutete, es folgte eine neue Generation von jungen Lehrern. Ich war sehr froh, dass unsere Klassenlehrerin bleiben konnte. Sie war eine entspannte und zu uns Kindern freundliche Person, die bei uns Schülern einen hohen Stellenwert genoss. Leider blieb sie nur noch ein Jahr.

 

 

 

Nichtsdestotrotz fand ich die anderen Lehrer unheimlich toll, weil sie so innovativ waren. Sie hatten ein ganz anders Lernkonzept. Der Ablauf des Unterrichtes wurde lebhafter, wir wurden auf Dinge eingestimmt, die früher überhaupt nicht denkbar waren. Kannte man den üblichen stupiden Stundenablauf, so wurde es plötzlich abwechslungsreicher, der Umgangston mit uns Schülern wurde lockerer und wir sahen die Lehrer häufiger freundlich lächeln. Weiter änderte sich der Unterricht, das hieß, vorgegebene Themen wurden intensiv gemeinsam durchgesprochen, und wir haben uns nicht nur gemeldet und entweder die richtige oder aber die falsche Antwort gegeben. Aufsätze wurden nicht nur benotet, sondern wir haben sie vorgelesen. Anschließend konnten die Schüler Stellung dazu beziehen, ob ihnen der Text gefallen hat oder nicht. Es entstand auch das Arbeiten ihn Gruppen, wo jeweils 4 bis 6 Schüler ein bestimmtes Thema bekamen und anschließend einer darüber berichtete. An heißen Sommertagen wurde der Unterricht nach draußen verlegt, was wir besonders mochten.

 

 

 

20.8. Handarbeiten der Mädchen.

 

Die Handarbeitsstunden, die wir Mädels besuchten, wurden anders. Eine junge Lehrerin brachte uns vom Flicken, Stopfen und Häkeln weg und erarbeitete mit uns andere Formen der Handarbeit. So gehörte auch die Kreativität und die Anregung der Fantasie für bestimmte Arbeiten, wie z. B. Gestaltung und Entwurf einer Tischdecke oder Patchwork - Arbeiten dazu. Auch war es uns möglich, dass wir Wünsche äußern konnten, welche Art der Handarbeit wir gerne ausführen würden. Wer nicht stricken konnte, dafür aber lieber häkelte, konnte dies tun. Dies wäre zuvor undenkbar gewesen. Einige von uns Mädels wollten gerne das Nähen erlernen, so konnte sich jeder ein gewisses Teil aussuchen, welches er anfertigen wollte.

 

 

 

20.9. Schulrektoren im Vergleich

 

Der neue Rektor war uns Schülern gegenüber freundlicher zugewandt. Er war bedeutend jünger als sein Vorgänger und hatte immer ein offenes Ohr für die Bedürfnisse und Wünsche der Schüler. Selbst dann, wenn man ihn nach Schulschluss auf der Straße traf, grüßte er nicht nur freundlich, sondern unterhielt sich auch mit uns, was für uns eine neue Art der Begegnung war. Außerdem organisierte er Schulfeste, war bei den Bundesjugendspielen, die wir absolvierten, anwesend. Auch in den großen Pausen war er oft auf dem Schulhof, sodass er dort auch für uns zu sprechen war.

 

 

 

Der ältere Rektor wirkte unnahbar und wir bekamen ihn kaum zu sehen. Bei ihm mussten wir unter seiner Aufsicht die Sütterlinschrift erlernen, was vielen Schülern sehr schwer viel. Besonders das Lesen solcher Texte brachte einige an ihre Grenzen.

 

In meinem späteren Beruf kam mir die erlernte Schriftart zugute, denn extrem viele Patienten schrieben ihre Wünsche und Briefe in dieser Form.

 

Betonen möchte ich noch, dass ich persönlich nichts Negatives an Erfahrungen mit unserem älteren Rektor erlebt habe, außer; die Sache mit den Einzelkindern. Ich fand es schade, dass der Kontakt zu ihm mehr als dürftig war.

 

 

 

20.10.  Keine Strafen

 

Negative Erfahrungen mit meinen Lehrerinnen und Lehrern habe ich während meiner gesamten Schulzeit keine gemacht. Ich habe nie Strafen erfahren, bin nicht im negativen Stil ermahnt oder gemaßregelt worden und musste auch nie „Nachsitzen“.

 

 

 

Allerdings gab es eine Ausnahme: Ich musste einige Male, wenn ich einen Lachkrampf bekam, vor die Klassentür gehen, bis dieser vorbei war. Aber dies war keine Strafe, sondern ich lachte ja nicht alleine, aber die schlimmste „Lachtaube“ musste den Raum halt verlassen. Manches Mal standen wir sogar zu dritt dort.

 

 

 

20.11.  Der erste Füllfederhalter

 

Als das Schreiben mit dem Griffel auf der Schiefertafel eingestellt wurde, durfte ich mir einen wunderschönen Füllfederhalter in dem bekannten Schreibwarengeschäft Gentzsch in Oberhausen aussuchen. Dieser Füller hat mich während meiner gesamten Schulzeit begleitet. Selbst dann, als es die moderneren Füller gab, bei denen die Feder nur halb zu sehen war, benutzte ich meinen ersten Füllfederhalter besonders beim Schreiben von Arbeiten und Briefen, da er so gut in der Hand lag und eine hervorragende Goldfeder besaß und mit Leichtigkeit über das Papier glitt.

 

 

 

20.12. große Enttäuschung

 

Nach Beendigung der vierten Klasse sollte ich das Lyzeum in Oberhausen besuchen. Im Vorfeld hatten meine Eltern beim Lyzeum in Oberhausen einen Antrag gestellt, damit ich das Gymnasium besuchen durfte. Dies geschah aus den gleichen Gründen wie schon bei der Volksschule. Wir wohnten noch immer an der Grenze Oberhausen/Mülheim und eine Wegstrecke wäre aufgrund der mangelnden Infrastruktur etwa 1-1,5 Stunden gewesen.

 

Die Prüfung dazu habe ich bei dem Lyzeum abgelegt und bestanden. Eine Woche vor Schulbeginn nach den Osterferien bekamen meine Eltern den Bescheid, dass ich nicht angenommen werden könnte. Die Begründung lautete: Da es zu viele Bewerber gegeben hätte und somit die Klassen ausgelastet seien und ich aus Mülheim sei.

 

 

 

Also besuchte ich wieder meine alte Schule und war ziemlich enttäuscht. Nach einigen Monaten in der 5. Klasse durfte ich mit 5 weiteren Schülern wegen guter Noten eine Klasse überspringen, und so machten wir den Unterricht der 6. Klasse mit. Für mich war es keine gute Lösung, da man im Grunde vieles doppelt, als Lernstoff mitbekam. Deshalb bekamen wir 5 in regelmäßigen Abständen anderen Lehrstoff und Themenbearbeitungen.

 

Meine Eltern haben mir dann mitgeteilt, dass ich die Volksschule bis zum Ende besuchen sollte. Anschließend hätte ich die Möglichkeit auf einer Hauswirtschaft - Schule in Oberhausen/Sterkrade meine mittlere Reife ablegen zu können. Damit war ich einverstanden, zumal sie mir noch sagten, dass ich, wenn ich es wünschte, auch noch mit einem weiteren Besuch einer anderen Schule mein Abitur machen könnte.

 

 

 

20.13. Hauswirtschaft Schule

 

Im Frühjahr 1965 beendete ich die Volksschule und besuchte nach den Ferien von da an die Hauswirtschaft Schule (Käte-Kollwitz-Schule) in Oberhausen/Sterkrade. Dort wurden alle üblichen Schulfächer unterrichtet, die zum Erreichen der mittleren Reife erforderlich waren, aber es gab auch den hauswirtschaftlichen Teil. Letzterer beinhaltete alle Themen, die zur Führung eines Haushaltes sowohl in Theorie als auch in Praxis erforderlich waren. Selbst, z. B. der Aufbau eines Kühlschrankes, einer Waschmaschine, nebst Funktionen, gehörten dazu.

 

Das Bügeln musste fadengerade durchgeführt werden, eine Tätigkeit, die jede von uns Schülerinnen gehasst hat, denn war es nicht so, wurde das Teil von der Lehrerin zusammengedrückt, wieder in die Wäsche geworfen und man musste mit einem neuen Teil von vorne beginnen. Kochen, Handarbeiten und Gartentätigkeiten gehörten ebenfalls zum Stundenplan.

 

 

 

20.14. Anstrengende Zeit.

 

Der Besuch der Käte-Kollwitz-Schule verlangte mir körperlich eine Menge ab. Es war eine anstrengende Zeit, zumal mein Weg dorthin aufwendig war. Von unserer Wohnung lief ich zunächst etwa 25 Minuten im forschen Schritt zur Straßenbahnhaltestelle nach Oberhausen, fuhr etwa 15 Minuten mit der Straßenbahn und musste in eine andere Bahn Richtung Sterkrade umsteigen, welche mindestens 20 Minuten unterwegs war. Danach folgte ein Fußweg von etwa 15 Minuten.

 

Die Schule war meistens von morgens 8 Uhr bis nachmittags 15-16 Uhr. Danach kam der Rückweg nach Hause.

 

Nach 2 Monaten entschied ich mich, den Weg mit dem Fahrrad zurückzulegen. Somit ersparte ich mir eine Menge Fahrzeit.

 

 

 

20.15. Schulabbruch-Lehrstellensuche

 

Einige Monate, bevor ich meine mittlere Reife erreicht hätte, verließ mich die Lust, weiterhin die Schule zu besuchen. Ich war gut in der Schule, aber ich wollte einfach nicht mehr. Ich habe das mit meiner Mutter besprochen. Sie sagte: „Um Gottes willen, wir hatten besprochen, Du machst das Abitur!

 

 Mein Vater, der mir nie einen Wunsch abschlagen konnte, merkte, dass es mir nicht mehr gut ging. Er erkannte die Ernsthaftigkeit meines Wunsches, da er wusste, ich würde eine solche Entscheidung nicht leichtfertig treffen. Gemeinsam haben wir überlegt, wie es weitergehen könnte.

 

Ein Gedanke hatte sich in mir seit Monaten verfestigt, ich wollte eine Arbeit verrichten, wo Tiere im Mittelpunkt standen; entweder in einer Tierarztpraxis oder in einem Zoo. Von diesem Vorhaben hat mein Vater mich in langen Gesprächen abgebracht, da er meinte, dass ich damit nicht klarkäme, wenn ich leidende Tiere erleben müsste, die eventuell sogar eingeschläfert würden. Damit hatte er vollkommen ins Schwarze getroffen, dies würde mich krank machen. Bei meinen Überlegungen zuvor hatte ich diese Situationen ausgeblendet.

 

Langsam fand der Vorschlag meines Vaters - dass ich auch Menschen helfen könnte - bei mir Anklang und intensivierte sich.

 

 

 

 

 

21. Mein Onkel der Seefahrer.

 

Eine große Sehnsucht hatte ich als Kind immer nach meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter, der zur See fuhr. Für mich war es eine große Freude, wenn er nach langen Monaten der Abwesenheit endlich für einen längeren Aufenthalt wieder bei uns weilte. Meistens war er viele Monate, manches Mal sogar 1-2 Jahre auf See in den entferntesten Ländern der Welt.

 

 

 

21.0 Telefonate aus der Ferne

 

Telefongespräche an uns musste mein Onkel von Bord des Schiffes über die Reederei anmelden. Dieser Termin wurde uns Angehörigen von der Reederei mit etwaiger Uhrzeit mitgeteilt. Stand solch ein Termin in den 50er-Jahren an, sind meine Eltern mit mir nach Oberhausen zu einer Verwandten gegangen, die eine Gaststätte betrieb, denn sie besaß als einzige ein Telefon. Dort haben wir dann stundenlang gesessen und auf den Anruf gewartet, den wir aus Japan, Amerika, Australien, Afrika oder wo auch immer mein Onkel sich aufhielt, entgegennehmen konnten.

 

 

 

21.1. Post aus der Ferne

 

Zu Geburtstagen, zum Weihnachtsfest und auch zwischendurch sendete er Telegramme und häufig auch große Pakete voller Überraschungen.

 

 Briefe, die er schrieb, wurden von meiner Familie und mir freudig erwartet. Meine Mutter las sie mir vor und beantwortete sie stets. Allerdings schrieb er lieber Postkarten aus jedem Land, wo das Schiff, auf dem er sich befand, vor Anker lag.

 

Als ich selber Briefe schreiben konnte, habe ich dies reichlich getan und ihm aus unserem Leben alles mir Wichtige mitgeteilt. Er hat auch mit mir korrespondiert und mir zusätzlich unendlich reichlich Postkarten gesandt, die heute noch zu Hunderten in meinem Besitz sind. Mit jedem geschriebenen Brief musste ich zur Post und ihn per Luftpost aufgeben. Geschrieben werden musste auf hauchdünnem Luftpostpapier.

 

 

 

21.2. Besuche des Onkels.

 

Wenn er endlich zu Besuch kam, war es für mich: Das Erlebnis pur! Ich hätte ihn am liebsten immer bei uns gehabt, denn er war ein warmherziger und ausgesprochen liebenswerter Mensch, immer anderen freundlich zugewandt und extrem geduldig. Teilweise hat er bei uns gewohnt, aber auch bei seiner Mutter, meine Oma, die in Oberhausen eine eigene Wohnung hatte. Ich habe jede Gelegenheit genutzt, um ihn und die wenige Zeit mit ihm zu verbringen, auch wenn er mich scherzhaft immer „Zimtzicke“ nannte. Fasziniert lauschte ich seinen Erzählungen aus fremden Ländern. Spannend waren auch seine Erlebnisse auf See, die sich dort abspielten, wie die Äquatortaufe.

 

Es war für mich unverständlich, dass, wenn man nicht schwimmen konnte, einen Beruf ergreifen konnte, wo man ständig den Gefahren auf hoher See ausgesetzt ist. Mein Onkel war Nichtschwimmer.

 

 

 

21.3. Tod des Onkels

 

Leider ist er viel zu früh im Alter von 41 Jahren an einer schweren Krankheit - kurz vor meiner Hochzeit - verstorben. Ich hätte ihn so gerne noch lange in meinem Leben gehabt, aber leider wollte es das Schicksal anders.

 

Er wollte sich partout in Hamburg ins Tropen-Krankenhaus begeben, wo sich wohl alle Seeleute behandeln ließen. Wir konnten ihn nicht dazu überreden, sich hier in stationäre Behandlung zu begeben. So kam er zu spät in die Klinik und ist dort nach kurzer Zeit an einer akuten Darmerkrankung verstorben.

 

Meine Oma und meine Mutter haben ihn auf seiner letzten Reise von Hamburg nach Mülheim begleitet, wo er im Kreise aller, die ihn liebten und mochten, beigesetzt wurde.

 

 

 

22. Meine Konfirmation.

 

22.0. Vorbereitung zur Konfirmation

 

Bevor meine Konfirmation gefeiert werden konnte, musste zunächst ein Jahr lang der Katechumenen - Unterricht und im zweiten Jahr der Konfirmanden - Unterricht besucht werden. Einmal in der Woche, jeweils an einem Nachmittag, musste ich nach Oberhausen ins Wichern Haus (das Gemeindezentrum) zum Unterricht. Dort traf man nicht nur auf die Mitschüler, sondern auch auf junge Leute, die anderen Stadtteilen in Oberhausen angehörten. Ich war die einzige Schülerin aus Mülheim, zuvor wurde wieder eine Genehmigung eingeholt.

 

 

 

22.1. Sonntagsgroschen sammeln

 

Während der Zeit des Katechumenen - Unterrichts bekamen wir vom Pfarrer eine Sammelbüchse und eine Liste mit den Namen der aufzusuchenden Leute ausgehändigt. Jeden Samstag in den Nachmittagsstunden sollten wir die Leute auf der Liste aufsuchen und um eine Spende bitten. Ich muss gestehen, diese Aktion war mir so was von unangenehm und peinlich. Mit einer leeren Sammelbüchse wollte ich natürlich auch nicht zu meinem Unterricht erscheinen, denn dann musste sie abgegeben werden. Zu meinem Leidwesen wurde eine neue leere Büchse wieder ausgehändigt. Das positive bei der Sammelei war, dass ich alle Leute kannte und sie mich schon mit einem Lachen und den Worten empfingen: Ach, Jutta da bist Du ja wieder.

 

 

 

22.2. Gottesdienstpflicht

 

Jeden Sonntag, in aller Frühe, klingelte mein Wecker um 7 Uhr, da ich zum Gottesdienst musste, der eine Pflicht darstellte. Fehlte man, war eine für den Pfarrer nachvollziehbare Entschuldigung erforderlich, die von den Eltern ausgestellt werden sollte.

 

Nach der morgendlichen Dusche zog ich meine besten Kleidungsstücke an und absolvierte den Weg zur Kirche (ca. eine ¾ Stunde) auf Stöckelschuhen, da diese am besten zu meinem Outfit passten, um pünktlich am Gottesdienst teilnehmen zu können, der um 9 Uhr begann. Meine Eltern warteten mit dem Frühstück so lange, bis ich wieder zu Hause. war.

 

 

 

22.3.  Meine Konfirmation, Feier.

 

Der Tag meiner Konfirmation sollte festlich begangen werden. Meine Mutter hat wieder alle Register gezogen und ein köstliches Essen für die Gäste vorbereitet.

 

Zusammen bin ich mit meiner Mutter und meinen beiden Omas zu Kirche gefahren. Damals trugen die Konfirmanden immer dunkle Kleidung. Ich hatte mich für ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse entschieden. Die Zeremonie war feierlich und endete mit dem Abendmahl.

 

Zu Hause angekommen lagen schon, bevor die Gäste eintrafen, Mengen an Geschenken für mich bereit, die von Nachbarn abgegeben worden waren.

 

Den Tag selber habe ich in bester Erinnerung, es gab hervorragendes Essen für unsere Verwandten, ständig schellte die Türglocke und weitere Geschenke wurden abgegeben und eine fröhliche Stimmung war bei allen Anwesenden vorhanden.

 

Nach dem Kaffeetrinken und Abendessen lichtete sich die Gästeschar und Ruhe kehrte ein, sodass ich meine Geschenke nochmals in Muße begutachten konnte. Es waren Pralinen, persönliche Dinge, Teile für die Aussteuer und auch Kleidungsstücke liebevoll eingepackt und ausgesucht.

 

 

 

22.4. Nachfeier mit Nachbarn

 

Am nächsten Tag, morgens in der Frühe, bestand meine Aufgabe darin, alle Nachbarn in der Umgebung einzuladen und mich vorab schon einmal zu bedanken. Am Nachmittag zum Kaffeetrinken platzte unser Wohnzimmer fast aus vollen Nähten. So viele Leute sind gekommen. Es war ein toller Nachmittag und Abend. Alle gingen glücklich und zufrieden wieder heim.

 

Und konnte sagen, zwei wunderbare Tage verlebt zu haben.

 

 

 

23. Jugendgruppe

 

Nach unserer Konfirmation beschlossen die meisten Konfirmanden von uns, dass wir den guten Zusammenhalt unter einander doch fortsetzen sollten. Somit trafen wir uns einmal wöchentlich in einem Gemeinschaftsraum unseres Gemeindezentrums. Wir standen unter der Aufsicht unseres Pfarrers, der auch dafür sorgte, dass die Mädchen abends sicher nach Hause kamen, was zu reinsten Lachsalven führte, denn er fuhr eine Ente und bei jeder kleinsten Unebenheit schaukelte der Wagen in alle Richtungen.

 

In „Unserer Gruppe“, wie wir uns nannten, wurde über wichtige Themen diskutiert, wir hörten Musik, spielten Spiele, führten allgemeine Unterhaltungen und feierten Geburtstage, tanzten und machten gemeinsame Ausflüge. Letztere wurden von einer Kirchenmitarbeiterin organisiert.

 

An den Wochenenden trafen wir uns und gingen in eine Milchbar, ins Kino oder besuchten Veranstaltungen in den eine Skiffle-Band Musik machte, oder wir trafen uns bei einem von uns in seinem Zimmer.

 

 

 

Eines Tages hatten wir einen Neuzugang. Ein großer junger Mann, sehr gepflegt mit blondem Haar und hellblauen Augen. Er war ausgesprochen höflich und freundlich, witzig, eloquent und gut gekleidet. Alles Attribute, die ich auf den ersten Blick schätzte. Im Laufe der Zeit sollte es sich herausstellen, dass auch ich ihm gefiel, und ich brauchte nicht mehr mit der Ente fahren, denn Thomas, so hieß er, brachte mich nach Hause. Von da an waren wir unzertrennlich und wir schrieben das Jahr 1965. Bis heute sind wir glücklich verheiratet.

 

 

 

24. Beruf

 

24.0. Geheimniskrämerei

 

Nachdem ich meine Schule abgebrochen hatte, fand mein Vater eine Annonce eines bekannten Internisten, der eine Arzthelferin zur Ausbildung suchte. Die Anzeige interessierte mich. Ich beschloss, mich dort trotz des bevorstehenden Rosenmontags, in der Praxis vorzustellen.

 

Eine Tante bat meine Mutter, an diesem Rosenmontag in ihrer Gaststätte auszuhelfen, weil der Rosenmontagszug durch Oberhausen verlief. Da es kein schulfrei gab, habe ich mich morgens fertiggemacht, als würde ich die Schule aufsuchen. Meinem Vater gab ich Bescheid, dass meine Schultasche bei meiner Oma im Stall hinterlegt sei, denn meine Mutter sollte von meinen Plänen nichts erfahren, da sie diese sicherlich verhindert hätte.

 

 

 

24.1 Erwischt

 

Nun hatte ich 2 Stunden Zeit und wie der Teufel es will, lief ich meiner Mutter direkt in die Arme. Ich ging über die Marktstraße von Oberhausen und traf vor der Gaststätte auf meine Mutter. Sie fragte: „Was machst du denn hier? Ich denk, du bist in der Schule!“ Ich antwortete: „Ich habe die Straßenbahn verpasst.“ Das hat sie nicht geglaubt. Um einer weiteren Diskussion zu entgehen, bin ich schnellstens weitergelaufen. Ich hatte Herzklopfen ohne Ende, aber ich musste ja die Zeit überbrücken, nur ich hätte einen anderen Weg gehen können.

 

 

 

 

 

24.2. Vorstellungsgespräch

 

Das Stellengesuch, eines Internisten in Oberhausen, in der Samstagszeitung interessierte mich. Er bot eine Ausbildungsstelle zur Arzthelferin an. Am Montagmorgen habe ich mich zur angegebenen Adresse begeben. Meine Mutter wähnte mich in der Schule. Mein Vater über mein Vorhaben im Bilde.

 

Kurz nach meinem Schellen an der Praxistür öffnete der Arzt die Türe. Er fragte, was er für mich tun könnte. Worauf ich erklärte, dass ich wegen seiner Anzeige käme und mich für die zu vergebende Stelle bewerben möchte. Er gab mir für zwei Stunden später einen Termin, den ich pünktlich einhielt. Das Gespräch verlief angenehm und zum Ende fragte er mich, wann ich anfangen könnte. Meine Antwort lautete: Morgen. Er lachte wollte wissen, ob meine Eltern mit meinem Vorgehen einverstanden seien. Wahrheitsgemäß gestand ich ihm,  dass ich ihm diese Frage nicht genau beantworten könnte, aber ich mit ihnen sprechen würde.

 

 

 

24.3. Kleines Praktikum

 

Von Aschermittwoch bis Freitag habe ich ein Praktikum gemacht. Nach dem Wochenende sollte ich noch eine Woche über meinen Entschluss nachdenken und den Montag darauf meine Tätigkeit aufnehmen. Inzwischen hatte ich mich in der Schule abgemeldet und auf ein Zeugnis verzichtet.

 

Das Praktikum hat mich begeistert. Die Einblicke, die ich bekam haben mich allesamt fasziniert, besonders das große Potenzial an Lernmöglichkeiten in dieser Praxis war enorm. Es gab das Röntgen, ein Labor, in dem umfangreiche Untersuchungen stattfanden, Infusionen wurden gelegt, EKG ´s wurden in verschiedenen Arten abgeleitet, der Kontakt zu den Patienten stand besonders im Vordergrund, ach, und noch

 

So viele andere Tätigkeiten. Ich merkte schon damals, dies ist die richtige Entscheidung für mich.

 

 

 

Nach drei weiteren Tagen wurde ich nochmals in der Praxis vorstellig und erhielt die Zusage für die Lehrlingsausbildung zur Arzthelferin. Der dafür erforderliche Vertrag wurde mir ebenfalls übergeben. Dazu gehörte als Dank für das Praktikum ein Umschlag, der eine Geldsumme und 2 Kinokarten enthielt.

 

Mitte März 1966 begann ich mit meiner Ausbildung. Besuchte selbstverständlich auch die Berufsschule, die ich gerne besuchte und mit einem bestandenen Examen zur Arzthelferin vor der Ärztekammer beendete.       

 

 

 

 24.4. Reaktion der Eltern

 

Mein Vater freute sich, dass ich die Stelle bekommen hatte. Die nächste Hürde stand mir noch bevor. Meine Mutter fiel aus allen Wolken und sagte. "Nein, Du gehst weiter zur Schule.“ Dann war Stille.

 

Am nächsten Morgen bin ich zur Schule gefahren und habe mich im Sekretariat abgemeldet. Eine entsprechende Einverständniserklärung meiner Eltern musste noch nachgereicht werden, was ich am darauffolgenden Tag erledigte. Meine Mutter war so enttäuscht, dass sie eine Woche nicht mit mir gesprochen hat.

 

 

 

24.5.  Positive Entscheidung

 

Ich weiß, es ist schwer, zu verstehen, dass ich so kurz vor der mittleren Reife die Schule beendet habe. Denn so fehlt mir das Zeugnis des letzten Halbjahrs, aber ich hätte sie geschafft. Allerdings wurde ich nie danach gefragt. Ich kann sagen, dass ich es in meinem Beruf, direkt nach Beendigung meiner Lehre, zu einer leitenden Position in der großen internistischen Praxis gebracht habe, in der ich auch meine Lehrzeit absolviert habe.

 

Da ich immer sehr wissbegierig war, mich gut auf andere Menschen einlassen konnte, Patienten und Kolleginnen immer auf Augenhöhe begegnete, mit meinen Arbeitgebern großes Glück hatte, habe ich meine gesamte Berufstätigkeit stets gerne ausgeführt. Die Weiterbildung spielte bis zum Ende meines Berufslebens immer eine große Rolle.

 

 

 

 

 

24.6. Beichte bei der Mutter

 

Ja, und dann mussten wir das Geschehen erst einmal meiner Mutter beichten. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass meine Mutter eine Woche nicht mit mir gesprochen hat, so sehr hatte sie meine Entscheidung verletzt. Sie hat das Schweigen tatsächlich durchgehalten, auch gegenüber meinem Vater. Mein Vater hat mich getröstet, weil das eine Situation war, mit der ich gar nicht umgehen konnte. Sie hat mir weiter zwar mein Frühstück zubereitet und das Mittagessen hingestellt, aber es verlief alles ohne Worte. Nach einer Woche atmete ich auf, habe mich bei ihr entschuldigt und genau erklärt, warum ich so gehandelt habe. Gemeinsam sind wir dann losgegangen und habe meine Arbeitskleidung, 4 weiße Kittel, gekauft. Der Bann war gebrochen und unser gutes Verhältnis wieder hergestellt.

 

 

 

24.7.  Richtige Entscheidung

 

Vom ersten Tag meines Arbeitsantritts habe ich meine Tätigkeit voller Überzeugung und Freude ausgeführt. Die bereichernden Kontakte zu den Patienten, das freundliche Arbeitsklima, das hervorragende Verhältnis zu meinen Kolleginnen, war eine Situation, die sich sicherlich jeder wünscht, wenn er im Berufsleben steht.

 

 

 

Schon kurz vor dem Ende meiner Lehre beherrschte ich alle anfallenden Arbeiten. Ich war sehr wissbegierig. In vielen Situationen bin ich ins kalte Wasser geworfen worden, sodass ich bis in die Nacht hineingearbeitet habe. Von morgens sieben bis nachts um elf. Ich habe mir autodidaktisch - aus einem Notstand heraus geboren - alle Laboruntersuchungen eigenständig beigebracht. Wenn ich gewisse Anleitungen in den Gebrauchsanweisungen der Chemikalien und Reagenzien nicht verstanden habe, bin ich in andere Arztpraxen gegangen und habe gebeten, ob sie mir das schnell zeigen könnten.

 

Meine Kolleginnen unterstützten mich, auch wenn sie einen anderen Arbeitsbereich bedienten. Aber sie erkannten, dass nach der Kündigung von zwei Laborantinnen jemand da ist, der sich der Schwierigkeit stellt, keine Angst vor der Verantwortung hat, aber nicht abhebt, sondern sich weiter kollegial verhält. In meinem gesamten Berufsleben war es mir äußerst wichtig, stets mit meinen Kolleginnen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Auch dann, wenn jemand einen Fehler gemacht hat, so wurde von meiner Seite in Ruhe ein Gespräch geführt, aber immer mit Bedacht und ohne jegliche Form der Geringschätzigkeit.  

 

Natürlich hatte ich noch weitere Pläne für die Zukunft. Ursprünglich wollte ich meine Lehre beenden und danach irgendwas anderes machen, auch wenn damit ein Stellenwechsel verbunden gewesen wären. Aber ich bekam schon in meinem 2. Lehrjahr die Zusage zur Leitung der Praxis nach Beendigung meiner Lehrzeit. Inzwischen arbeiteten mit mir weitere 10 Angestellte. Es war die größte Praxis, die es in dieser Form über die Stadtgrenze hinausgab.

 

 

 

24.8. Praxisleitung

 

Als ich meine Abschlussprüfung mit 18 Jahren vor der Ärztekammer abgelegt hatte, wurde ich von meinem Chef nach Hause gebeten. Bei meiner Ankunft lagen schon viele Aktenordner auf einem Tisch bereit. Er sagte, er würde jetzt für ein ¼ Jahr in Urlaub fahren. Mir sei ja bekannt, dass er in einem neuen Ärztehaus, welches sich zu diesem Zeitraum im Rohbau befand, eine neue Praxis eröffnen würde. Er würde mir alle erforderlichen Unterlagen aushändigen, und mich mit der Ausführung der anstehenden Arbeiten und entsprechenden Verhandlung mit den zuständigen Gewerken betrauen. Dazu gehörte auch der Einkauf von gewissem Mobiliar für das Labor und den Sprechzimmern. Der dafür zuständige Händler wisse Bescheid und würde mich nach Moers abholen, damit die Auswahl getroffen werden könnte.

 

In drei Monaten käme er zurück, und er erwartete dann von mir, dass die Praxis fertig sei.

 

 

 

Ich bekam die Adressen von allen an dem Bauvorgang involvierten Gewerken und Firmen übergeben: Vom Architekten bis hin zur Firma Siemens, die die Röntgenanlage installieren musste.

 

Meine Eltern waren fassungslos. Über ein Wochenende habe ich mich in die Materie eingelesen und am Montagmorgens mit allen wichtigen Leuten telefoniert, die für die nächste Zeit meine Ansprechpartner waren. Von diesem Zeitpunkt an war ich jeden Tag auf der Baustelle. Schwierigkeiten stellten sich mir nicht in den Weg, ganz im Gegenteil, ich bemerkte eine Akzeptanz von den Handwerkern, die mir die schwierige Aufgabe leichter machten. Auch meine Kolleginnen verhielten sich fabelhaft. Ich habe sie immer in die Verläufe eingebunden und auch mit in den Bau genommen. Es war schon eine gewaltige Herausforderung.

 

 

 

Als mein Chef nach 3 Monaten aus Ascona zurückkam, waren die Praxisräume komplett fertig eingerichtet. Nur eine Tür fehlte, da der Schreiner die falschen Masse vorliegen hatte. Wir konnten unseren Praxisbetrieb dennoch zum Wochenbeginn aufnehmen. Mein Chef honorierte meine Leistungen mit einer erheblichen Gratifikation, einigen Geschenken und eine kräftige Gehaltserhöhung kam hinzu. Insgesamt blieb ich 6 Jahre in dieser Praxis, habe wegen persönlicher Veränderungen Anfang 1972 in eine Arztpraxis nach Mülheim gewechselt.

 

 

 

24.9. Praxiswechsel

 

Auch in dieser Praxis fühlte ich mich ausgesprochen wohl und genoss den regen Kontakt mit den Patienten. Zu meinen Kolleginnen bestand ein gutes Arbeitsklima. Kurz nach meinem Eintritt fand auch dort ein Wechsel in eine neue Praxis statt. Es war eine Hausarzt-Praxis, die sehr internistisch ausgerichtet war. Allerdings führten wir auch kleine chirurgische Eingriffe durch. 25 Jahre habe ich mit dem gleichen Arzt vertrauensvoll zusammengearbeitet, bis er schließlich die Praxis an seinen Sohn übergab.

 

Ich hatte wirklich großes Glück. Auch diese Zusammenarbeit mit dem jungen Arzt gestaltete sich als ausgesprochen angenehm und auf der Basis gegenseitigen Vertrauens.

 

 

 

24.10. Weiterbildung

 

Während meiner gesamten Berufszeit hatte ich die Möglichkeit, mich der Weiterbildung zu widmen wahrgenommen. So besuchte ich unzählige Seminare und Weiterbildungsmaßnahmen. Spezialisiert habe ich mich auf das „Thema Diabetes mellitus“, was ich bis zum Ende meiner Berufstätigkeit beibehalten habe. Im Zuge dessen war es mir möglich, eigenständige Schulungen mit Patienten und Arzthelferinnen durchführen zu können. Ebenfalls bekam ich die Chance für pharmazeutische Firmen Seminare abhalten zu dürfen, was für mich eine zusätzliche Bereicherung war.

 

Dies war zwar mit vielen Reisen, Lernen neuer Lehrstoffe und Mühen verbunden, aber ich habe es als positive Erfahrung gesehen, die ich auch an unsere Patienten weitergeben konnte.

 

Die Hygienevorschriften in ärztlichen Praxen haben einen hohen Stellenwert, somit habe ich das Qualitätsmanagement für Hygiene fest ins Auge gefasst und erfolgreich umgesetzt.

 

 

 

25. Heirat

 

Im Mai 1972 haben mein Mann und ich geheiratet. Wir haben uns ein gutes Leben aufgebaut, waren beide in unseren Berufen stark eingebunden. Durch immer wiederkehrende Weiterbildungen meines Mannes in Erlangen war ich in den ersten Jahren unserer Ehe oft auf mich alleine gestellt. Wir fanden eine Wohnung, schräg gegenüber meines Elternhauses, und bezogen dort eine gesamte Etage. Wir sind jedes Jahr mehrfach in Urlaub gefahren, meist in den Schwarzwald, da wir uns dort sehr wohl gefühlt haben. Auch den Taunus, Harz, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Teile in der ehemaligen DDR, haben wir auf Schusters Rappen im Laufe der Jahrzehnte bewältigt.

 

Tiere gehörten selbstverständlich zu unserem Leben. Fuhren wir in Urlaub, so wurden sie allesamt bei meinen Eltern in Pflege gegeben, was sie gerne übernahmen. Heute haben wir eine Katze, die uns hoffentlich noch recht lange begleitet.

 

 

 

26. Ehrenamtliche Tätigkeit

 

Seit Beginn der Zeitzeugen Börse Mülheim bin ich dort Mitglied. Wir sind eine Gruppe von Menschen, die sich einmal im Monat treffen und ihre Lebensgeschichte erzählen. Es geht um die Zeit vor dem 2. Weltkrieg bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg mit all seinen schrecklichen Auswirkungen.  Vom Alter her sind wir untereinander zum Teil viele, viele Jahre auseinander, was sich in keiner Weise als negativ erweist. Wir mögen uns, respektieren uns und sind uns freundlich zugewandt.

 

Wir erzählen unsere Geschichten meist jungen Menschen, berichten, wie unser früheres Leben aussah und was wir erlebt haben.

 

Gleichzeitig arbeite ich mit einem netten Herrn, ebenfalls Mitglied der Zeitzeugen,  an den Texten unserer Mitglieder, damit dieser für das Internet-Portal geeignet ist.

 

 

 

 27. Resümee

 

Wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke, bin ich froh und dankbar, dass ich keinen Krieg erleben musste. Dass ich nicht erleben musste, wie die Würde vieler Millionen Menschen mit Füssen getreten wurde und wird, und sie sinnlos ihr Leben verloren haben. Privat und beruflich habe ich unzählige Menschen kennengelernt, die ihr gesamtes Leben unter den Folgen ihrer gravierenden Verwundungen gelitten haben. Einer dieser Menschen war mein Vater.

 

        

 

Ich hatte das große Glück einer wunderschönen Kindheit. Ich wurde von meinen Eltern und Großeltern geliebt, fühlte mich geborgen und konnte in einer Umgebung aufwachsen, von der sicherlich jedes Kind träumt. Ich konnte meinen kindlichen Spieltrieb mit all seinen Facetten ausleben, denn mein Umfeld war geprägt von einer wunderschönen, abwechslungsreichen Landschaft und einem idyllischen Garten.

 

 

 

In den frühen Kinderjahren lebten wir zwar in einem kleinen Haus, aber dies verbreitete eine immenses Gefühl des sich Wohlfühlens. Meine Eltern sorgten liebevoll für mich, und sie brachten mir wichtige Attribute wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Empathie für Mensch und Tier, Freundlichkeit, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Respekt,  soziales Engagement und Fairness bei.

 

Auch in dem, von meinen Eltern gebauten Eigenheim, lebten wir bis zu meiner Heirat in einer guten und zufriedenen Gemeinschaft zusammen. Wir haben uns stets gegenseitig respektiert, uns nicht ungefragt in Entscheidungen des anderen eingemischt. Aber wir haben gewusst, dass jeder von uns auf den anderen zählen konnte.

 

 

 

Mit der Auswahl meines Berufes und dem damit folgendem Berufsleben bin ich glücklich und zufrieden geworden. Meine Tätigkeit habe ich voller Einsatz und Leidenschaft ausgeführt, was mit Sicherheit auch daran lag, dass ich mit meinen Arbeitgebern ebenfalls enormes Glück hatte. Sie ließen mir freie Hand bei der Ausführung meiner Arbeit und förderten mich, wo immer sie konnten, und ermöglichten es, mir mein Wissen zu erweitern.

 

 

 

Wenn mich heute jemand fragt, ob ich den damaligen Schulabbruch meinerseits bereuen würde, so kann ich diese Frage mit einem klaren „Nein“ beantworten. Natürlich habe ich mir diese Frage auch einige Male gestellt und bin stets zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Im Laufe von über 5 Jahrzehnten habe ich so viele nette Menschen kennengelernt, so viel Zuneigung erfahren, so viele positive Erfahrungen machen zu dürfen, unendlich viele, liebevoll geschriebene Zeilen bekommen, und etliche, durch meinen Beruf bedingte Freundschaften gefunden.

 

 

 

Ein weiterer Punkt, dass ich mich glücklich schätzen kann, ist meine Ehe. Ich habe einen Menschen seit über fünfzig Jahren an meiner Seite, der mich liebt, mich so nimmt, wie ich bin, der mich nicht verbiegen möchte und der mir in allen Lebenslagen treu und liebevoll zur Seite steht.

 



[1] „Feuersturm“ in Hamburg, Aktion Gomorrha

[2] Damit waren wahrscheinlich größere Lehmhaufen gemeint.

[3] Abraumhalde