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Erinnerungen an meine Eltern
Mein Vater, Heinrich Heckmann, wurde 1897 geboren und wuchs mit 11 Geschwistern in Mülheim-Winkhausen auf. Nach der Schule lernte er bei der Firma Thyssen in Mülheim den Beruf des Drehers, und als solcher arbeitete er auch dort. Er nahm am 1. Weltkrieg von 1914 - 1918 (alle vier Jahre) teil, meistens an der Front, wurde bei Verdun und später noch an der Somme verwundet. Als er zurückkam, herrschte große Arbeitslosigkeit vor, sodass er auch bei Thyssen keine Arbeit mehr fand.
Wahrscheinlich war das der Grund für den Eintritt bei den Syndikalisten, einer ziemlich links ausgerichteten Gewerkschaftsgruppe, die insbesondere nach dem 1. Weltkrieg großen Zulauf hatte. – Der syndikalistische (vergessene) Widerstand ist kaum erforscht. – Die Zugehörigkeit war auf wenige Jahre beschränkt. Später ist er eher unpolitisch geworden und war Atheist.
Meine Mutter, Emma Heckmann, wurde 1898 in Mülheim-Holthausen geboren. Sie wuchs mit einer Schwester und zwei Brüdern in einem auf der Anhöhe zur Walkmühle liegenden Kotten auf. Für Mädchen waren zu dieser Zeit die Möglichkeiten, einen Beruf zu erlernen, sehr gering. So betätigte sie sich in dem Haushalt eines in der Nähe liegenden Bauern als Hausgehilfin und war eine billige Kraft für eine Vielzahl von teilweise niederen Arbeiten.
Während der Inflation verloren die Eltern meiner Mutter ihr Eigentum und mussten in eine Mietwohnung in Mülheim-Heißen (Hingbergstaße) ziehen. In der Nachbarschaft lernten sich dann meine Eltern kennen und heirateten auch sehr bald. Sie bezogen eine in der Nähe liegende Neubauwohnung und wohnten dort – wenn man von einer längeren kriegsbedingten Unterbrechungen absieht – bis an ihr Lebensende.
Der Lebensunterhalt musste ja bestritten werden. So machte mein Vater sich als ambulanter Gewerbetreibender in Kurzwaren und Textilien – früher nannte man diesen Beruf "Hausierer" – selbständig. Hierbei handelt es sich um eine Beschäftigung, mit der man als Kind in der Schulklasse nicht unbedingt "angeben" konnte: Er machte aus Schrott brauchbare Handelsware und hielt sich mit der Reparatur von Fahrrädern mehr oder weniger gut über Wasser. Bedingt durch An- und Verkauf hatte er während der Naziherrschaft auch mit jüdischen Grossisten zu tun, die ihn zu Hause besuchten und Bestellungen entgegennahmen. Mein Vater trat zudem nicht in die NSDAP ein und hing während Großveranstaltungen statt der geforderten Hakenkreuzfahne die schwarz-weiß-rote Fahne aus dem Fenster, die Fahne von Krieger-und Veteranenverbänden (Flaggenstreik der Weimarer Republik). All das rief unseren Blockwart auf den Plan, der ihm regelmäßig braune Schulungsbriefe in die Hand drückte.
Unmittelbar zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ist mein Vater ebenfalls eingezogen worden, und zwar als Landesschütze. Das waren vornehmlich Soldaten zwischen 45 und 60 Jahren, die bereits im Ersten Weltkrieg gedient hatten. Landesschützen im Landsturm hatten vor allem Sicherungs- und Wachaufgaben sowie Kriegsgefangenenbewachung in den rückwärtigen bzw. Besatzungs-Gebieten und in der Heimat. Mein Vater übernahm dabei in der Lüneburger Heide bis zum Kriegsende mehrere Dorf-Kommandos. Seine Gefangenen genossen bei ihm so manche Vorteile, was ihm wiederum zum Nachteil gereichte, so dass er öfter in den "Bau" kam – so wurden die (meist Einzel-)Arrestzellen genannt.
Nach kurzer Internierung kam er bei Kriegsende im Juni 1945 wieder nach Mülheim und arbeitete nach längeren Unterbrechungen weiter bis zu seinem Tode 1964 als ambulanter Gewerbetreibender.
Nach ein paar Jahren schloss sich meine Mutter – wahrscheinlich ohne politische Beweggründe und noch vor 1933 – dem in der Nachbarschaft befindlichen evangelischen Frauenverein an. Die Nationalsozialisten versuchten da bereits, alle bestehenden Vereine mit ihrem Gedankengut zu durchsetzen und gleichzuschalten. Davon blieben auch die großen Kirchen nicht verschont. So entstand in der protestantischen Kirche eine Strömung, die sich Deutsche Christen nannten und durch die massive Unterstützung des NS-Staates immer mehr an Einfluss gewannen. Sie waren rassistisch, antisemitisch und am Führerprinzip orientiert und sahen beispielsweise in Hitler einen von Gott bzw. der Vorsehung gesandten Erlöser.
Die Bekennenden Christen (BK ab 1934) dagegen, zu der auch meine Mutter gehörte, hielten am alten Glauben von Martin Luther fest und bildeten eine innerkirchliche Opposition, die stets im Fokus der Nationalsozialisten stand.
Sie bestand sehr energisch darauf, dass ich regelmäßig den Kindergottesdienst und die Jungschar im CVJM der Gemeinde "Gnadenkirche Heißen" besuchte, obwohl ich ja auch Mitglied der Deutschen Jugend (DJ) war. Schließlich wurde ich in der Schule eindringlich von den Lehrern darauf hingewiesen, meine Eltern aufzufordern, nicht bei Juden zu kaufen. Meine Mutter tat es dennoch, bis die Juden vollständig von der Bildfläche verschwunden waren; das zeigt mir heute ihre Haltung als überzeugte Protestantin und Gegnerin des Nationalsozialismus. Während des Krieges fanden bombengeschädigte Nachbarn oft bei uns Unterschlupf.
Karnevalserinnerungen 1935 - 1936
Es muss um das Jahr 1935/36 gewesen sein, als meine Familie stolze Besitzerin eines Rundfunkgerätes wurde.
Aus ihm ertönte auf eine Knopfdrehung Musik, aber auch Gesprochenes.
Das Standgrammofon, welches in unterschiedlichen Qualitäten bis dahin Walzer und Marschmusik ertönen ließ, hatte ausgedient.
Bei dem Gesprochenen handelte es sich vielfach um NS Propaganda.
Mutter nannte das Gequatsche.
Im Januar/ Februar saßen Mutter, Vater, Opa und Nachbarn aus dem Haus vor unserem Radio. Das Dargebotenen unterschied sich deutlich von den üblichen Tagesprogrammen.
Es wurden auch Reden gehalten, dieses Mal lustig anzuhören und an Stellen, wo besonders starkes Lachen und Klatschen ausbrach, mit drei Paukenschlägen, Trommelwirbeln und Trompetentönen, dem sogenannten Tusch abgeschlossen.
Ich habe mich aus dem Bett geschlichen und die Karnevalsveranstaltung durch die leicht offenstehende Küchentür akustisch miterlebt, aber ehrlich, viel gehört, aber nicht viel verstanden.
Im damaligen Reichssender Köln wurden tatsächlich noch Sitzungen übertragen, die einigermaßen den traditionellen Gepflogenheiten entsprachen. Vom NS Regime zunächst zähneknirschend geduldet, alsbald aber kontinuierlich im Sinne seiner Propaganda geändert.
Karneval wurde hauptsächlich im katholischen Köln praktiziert, bald aber von den Nazis sprich der Organisation „Kraft durch Freude" (kurz KDF) gänzliçh vereinnahmt.
Dass wir Evangelischen keinen richtigen Karneval feiern, erklärte mir Mutter so, dass vor allem an den drei tollen Tagen „ Vieles" und nicht zuletzt „@Alles" erlaubt war. Das mit dem „ Alles" hauptsächlich Fremdgehen gemeint war, überstieg damals allerdings meinen 7 -Jährigen Horizont.
Viel wichtiger war für uns Blagen, dass in unserem Wohnbereich ein Karnevalsbrauch gepflegt wurde, der dem in Mülheim als „Sinter Määtes-" und anderswo „Sto MARTIN-Singen" ähnelte.
Dieses Mal hießen die Zielgruppen Metzgereien und schweinehaltende Nachbarn, welche in letzter Zeit geschlachtet hatten.
Dieser Kreis war gut vorbereitet und hatten für diesen Tag besondere Spezialitäten parat. Beliebt waren Leber- und Blutwürste (Mehlpiepen).
Letztere hatten noch einen weiteren Namen, den man früher unbedacht aussprechen konnte, aber heute nicht mehr in den Mund nehmen darf. (Ältere kennen die mit „ N" anfangende Bezeichnung)
Die Kostümierung beschränkte sich auf mehr oder weniger ausgedienter Sachen der Elterna Der eine oder andere trug eine Pappnase oder Perücke, was schon etwas dennormalen Ramen sprengte. Wir zogen dann wie bei St. Martin vor die Türen der Schlachtviehhalter bzw. Metzgereien und sangen im Chor ein Lied, das wenig Melodie bot, um so mehr aber sprachliche die Gebefreudigkeit anregt.
Es hatte nur ein paar Zeilen und begann:
Ik bin en kle-iner Fasselomens—Jeck und hätt so gün ee-n dick Stück Speck
We-i mögen oak Din wooss, kriegt man davon o-uk Doost
Et schmackt us chutt, e-in Stückchen van de Ferkesfott.
Das Chorwerk war kein Ohrenschmaus, die Gaben aber Zungenschmaus.
Eine zeitlang gab es für die Schule keine dünngekratzten Butter- sondern fingerdick belegte Wurstbrote.
Wahrhaftig ein köstlicher Brauch am Mölmschen Faselooment!
Als 1945/46 "Klauen" noch "Organisieren" hieß.
Im Herbst 1945 fuhr ich mit meinem Vater auf abenteuerliche Weise in die Ostzone, um meine Mutter, die mit mir damals nach Bad Langensalza in Thüringen evakuiert worden war, wieder in den Westen zu holen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen war es uns schliesslich gelungen, die grüne Grenze, so wie man damals die Demarkationslinie nannte, zu überschreiten.
Die mittelalterliche Kleinstadt war, wie ganz Thüringen zuerst von den Amerikanern erobert, dann geräumt und den Sowjets im Austausch gegen Westberlin abgetreten worden.
Bad Langensalza hatte so gut wie keine Kriegsschäden davongetragen und ich fand alles wieder so vor, wie ich es damals 1944, als ich zum Arbeitsdienst eingezogen wurde, verlassen hatte.
Meine Mutter wohnte noch in der alten Villa der Familie Schröder, die seit Generationen einen Travertins-Steinbruch besass. Ich fühlte mich fast wieder
wie zu Hause, wenn, ja, wenn nicht einige russische Offiziere mit Begleitpersonal einen Trakt des Hauses bewohnt hätten.
Die lwans, wie man die Russen spöttisch nannte, waren unberechenbar im
Negativen wie auch im Positiven.
Wer sich einigermassen mit ihnen arrangierte, konnte es hier halbwegs
aushalten. Deshalb verschoben wir die Rückreise in den Westen auf später.
Hier im Städtchen war 1945 die Welt weiß Gott nicht in Ordnung, aber
wenigstens im Vergleich zu den Großstädten im Westen vor Zerstörungen
verschont geblieben.
Wie in allen deutschen Regionen war die Zuteilung von Lebensmitteln
1945/46 im Allgemeinen nicht nur knapp, sondern katastrophal.
Alles Tun und Denken drehte sich irgendwie um die Essensbeschaffung.
Als abends einer der Offiziere auf unser Zimmer kam und uns zu einem Wodkadrink aufforderte, sprach er uns mit den Worten an: "Ihr morgen Kaserne, rabota (arbeiten) in Magazin? Es geben Khleb (Brot) und Supa (Suppe) dort."
Das Angebot war verlockend, denn wir wussten vom Militar her, dass in einem Verpflegungs - Depot nicht nur Brot und Suppe, sondern auch immer etwas anderes abzustauben gab.
Der Offizier stellte uns einen Passierschein für das Kasernengelände aus, und so traten wir am nächsten Tag unsere Dienste als Kladskoyraboch, (Lagerarbeiter) an.
Wir staunten nicht wenig, was hier alles an Lebensmitteln lagerte und zu bewundern gab:
Graupen, Mehl, Weizen, Hafer, Roggen, Oel, Zucker etc. alles, was von den um-liegenden Dörfern zwangsmässig vereinnahmt worden, und für " Otto
Normalverbraucher" nicht zu haben war.
Wir malten uns sofort aus, wie wohltuend es sich anfühlte, wenn etwas davon für den Eigenbedarf abgezweigt würde.
Nun, nichts war unmöglich, aber man musste die Verhaltnisse und Abläufe erstmal erkunden. Wir brauchten dazu nur wenige Tage.
Die Grundernährung, welche Zuhause überwiegend aus Pellkatoffeln mit Salz bestand, brauchte unbedingt eine geschmackliche Verfeinerung. Es fehlte Fett. Dafür hielten wir das in den Fässern befindliche Rapsoel zum Herstellen von Bratkartoffeln bestens geeignet.
Wir machten uns Gedanken, mit welcher Methode dem Oel in den großen Kanistern am besten beizukommen und an den Eingangsposten vorbeizuschmuggeln war.
“Beschaffungserfahren", wie uns der Dienst bei der Wehrmacht gemacht hatte, benutzten wir unsere alten Feldflaschen (gehörten zu jeder Landserausrüstung), befestigten sie mit der Schlaufe des Schraubverschlusses am Gürtel innerhalb der Hose und füllten sie nach Feierabend mit dem "flüssigen Gold" vorsichtig ab. Ein gefährliches, aber lohnendes Verfahren.
Zum Glück waren die Kontrollen mit Vorzeigen des Passierscheines abgetan.
Einmal in der Woche gab es für die nächste Zeit Bratkartoffeln. Wie hoch die Bratkartoffeln zur damaligen Zeit im Kurs standen, verdeutlicht der Begriff "Bratkartoffelverhältnis“.
Er wurde dadurch geprägt, dass, wenn die Freundin ihrem Freund in ihrer Familie
Bratkartoffeln servierte, dies in der Beziehung einen nicht zu unterschätzenden Stabilisierungseffekt auslöste.
Von einer weiteren Episode, wie knappe Ware beschafft werden konnte, möchte ich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen.
Das Magazin war, wie bereits erwähnt, gefüllt mit lebenswichtigen Kostbarkeiten, die von den Rotarmisten bei den Bauern in den umliegenden Dörfern regelmässig konfisziert worden waren.
Um den Vorrat an Weizen zu ergänzen, wurden mein Vater und ich als Transport-begleiter für ein Beschaffungs-Kommando abgestellt. Darunter war zu verstehen, dass die Russen im wahrsten Sinne des Wortes über die Dörfer zogen, um bei den Bauern Gerste, Hafer, Roggen oder Weizen aufzutreiben. Eine vom Bürgermeister ausgestellte Liste enthielt die Namen der Landwirte, die abzuliefern hatten.
Das geschah nicht immer in einer freundschaftlichen Atmosphäre. Es blieb bei den Bauern nur bei zaghaften Protestversuchen, denn die Rotarmisten liessen aufgrund ihrer unmissverständlichen Gebärden und den geschulterten Kalaschnikows nichts anderes zu.
Unser klappriger Transporter war nicht der grösste und hatte deshalb mehr
geladen, als er eigentlich verkraften konnte.
Wir mussten oben auf der Ladung Platz nehmen. Unsere Aufgabe bestand
darin, dafür zu sorgen, dass keiner der Säcke abrutschte.
Das ganze war nicht ungefährlich, denn die Landstraßen hatten teilweise nur einen aus Lehm bestehenden Untergrund mit vielen Schlaglöchern.
Obwohl es rumpelte und pumpelte, waren wir Herr der Lage. Dann kam uns die glorreiche Idee, unsere Pflichten etwas lockerer anzugehen, dies vor allem in dem Augenblick, als sich ein Sack mit Weizen selbstständig gemacht und vorwitzig bis am Rand der Seitenplanke gehoppelt war. In einer Kurve mit einem tiefen Abflussgraben schlossen wir beide Augen und unterstützten das Ausbrechen des Weizensackes mit
einem kleinen Schubs, so dass er einen eleganten Salto vollführte und schwerfällig in dem Graben landete.
Niemand hatte etwas bemerkt, am allerwenigsten, dass in einem abgeschlossenen Abteil vorn platzierte Personal, welches versuchte, ihren Dauerrausch etwas auszuschlafen. Um so besser hatten wir uns die Stelle gemerkt, welche sich unser Ausreisser als Landeplatz ausgesucht hatte.
Wir konnten nach Feierabend nicht schnell genug nach Hause kommen, um uns auf die Fahrräder zu schwingen und die Chaussee entlang zu fahren, um in der Dämmerung die Beute sicherzustellen und so gut es ging, auf den Gepäckträger zu verladen. Nach vielen Unterbrechungen - der Sack rutschte von links nach rechts, mehrmals auch auf die Erde - konnten wir die Aktion erfolgreich abschliessen.
Der Sack wurde unter dem Bett nicht unbedingt sachgerecht gelagert. Noch war er jedoch prall gefüllt und die Mutter achtete akribisch darauf, dass er nur langsam faltig wurde. Mit dem Inhalt stellten wir über Wochen hinaus ein wohlschmeckendes Gericht her, das auch hin und wieder eingeladenen Gästen vorzüglich schmeckte.
Um das Rezept brauchten wir kein Geheimnis zu machen:
Man nahm 250g Weizenkörner und brachte diese mit Wasser zum Quellen, reicherte das Ganze mit Zucker oder Salz an, ließ den Brei ca.10 Minuten kochen, rührte noch einmal alles gut durch, schmeckte ab,und jeder erlebte eine tolle Überraschung - nämlich, die Verwandlung von Hühnerfutter in eine kulinarische Köstlichkeit.
PS: Wir haben nach der Wähungsreform - zum Gedenken an diese Zeit - öfters unseren legendären Weizenbrei angerichtet, aber nicht mehr ganz so delikat gefunden, wie damals im Winter 1945/46.
Das Wirtschaftswunder
Wie ich die Zeit von 1948 bis 1972 in der DDR und der späteren BRD erlebte
Daten zur Zuordnung:
Währungsreform (DM) in den Westzonen: 20. JUNI 1948
Währungsreform in der Ostzone: 23. Juni 1948 RM gekennzeichnet.
Berliner Blockade vom 24. Juni 1948 bis 12. MAI 1949
Neue Banknoten (Mark der deutschen Notenbank) 24.07.1948
Luftbrücke vom 26. Juni 1948 bis 3. September 1949
Gründung der Bundesrepublik Deutschland 23. Mai 1949
Gründung der DDR 07.10.49
Berliner Mauerbau in der Nacht zum 12. auf den 13. August 1961
Vorweg: Das sogenannte Wirtschaftswunder fiel nicht urplötzlich vom Himmel, sondern brauchte lange, bis der Begriff „Wunder“ seine endgültige Berechtigung erlangte, auch wenn es sich völlig normal erklären ließ.
Offiziell fand diese „Wundervolle Zeit“ zwischen 1948 bis 1970 statt.
Zum besseren Verständnis bedarf es eines kurzen Rückblicks auf diesen Abschnitt vor dem Wunder, also zwischen 1945 bis 1948.
Deutschland war in Zonen aufgeteilt.
Die Siegermächte bedienten sich unterschiedlicher Vorgehensweisen gemäß ihrer politischen Systeme.
Die westlichen Alliierten betrachteten Deutschland als Wirtschaftsobjekt, welches schnellstens wieder funktionsfähig gemacht werden sollte.
Die Sowjetunion dagegen war bestrebt, möglichst viele Reparationen herauszuholen, alles was nicht niet - und nagelfest war zu demontieren und Deutschland trotzdem nach außen hin demokratisch wirken zu lassen.
Nun, wie erlebte ich die Zeit vor dem Wunder?
Seit Ende 1946 lebte ich als Junglehrer in einem Dörfchen in Thüringen mit ca. 600 Einwohnern, wobei die Hälfte davon aus ostpreußischen und sudetendeutschen Flüchtlingen bestand.
Ich wohnte kostenlos in der kleinen Schule des Ortes und wurde in wöchentlichem Wechsel von einer Bauernfamilie beköstigt, wie es die Tradition der Gemeinde mit ledigen „Kantern“, so nannte man hier in der Gegend den Lehrer, vorsah.
An meinem leiblichen Wohl gab es keinen Mangel. Nicht weniger wichtig war die Tatsache, dass meine Wirkungsstelle weit vom Schuss des Kreisbildungsamtes lag und man von der russischen Besatzung nicht viel zu sehen bekam.
Mein bayrischer Kollege und ich, konnten uns insofern manche Freiheit herausnehmen, zumal unsere schulische Arbeit, als auch die aktive Mitwirkung am Dorfgeschehen bei der Gemeinde als auch bei der Schulbehörde vollauf gewürdigt wurde.
Während ich meine Entscheidung, anders als die meiner Eltern, in Thüringen geblieben zu sein, für richtig hielt, sollte sich dies im Laufe der nächsten Jahre wesentlich ändern, woran nicht zuletzt das Wirtschaftswunder im Westen mitgewirkt hatte.
Mein Vater und meine evakuierte Mutter waren nach Mülheim zurückgekehrt. Alles, was sich dann im Westen abspielte, erfuhr ich über den Postweg, denn nur im Bürgermeisteramt gab es ein Telefon.
Was sonst in der Welt passierte, erfuhr man nur zensiert über die sowjetisch kontrollierten Sender Berlin, Leipzig oder Weimar.
Um realistischere Informationen zu erhalten, bediente man sich des Senders
RIAS(Rundfunk im amerikanischen Sektor), dessen Abhören aber mehr oder weniger streng verboten war. (Ich erinnerte mich an ähnliche Verhältnisse im 2. Weltkrieg, wo es der Londoner Rundfunk BBC
war, auf dessen Abhören sogar die Todesstrafe stand).
Es war am 20. Juni 1948, als ich mal wieder über den Sender RIAS authentische Neuigkeiten aus dem Westen in Erfahrung bringen wollte.
Ich traute meinen Ohren nicht, als der Sprecher eine Sensationsmeldung bekannt
gab, wo sinngemäß zum Ausdruck kam, dass in den Westzonen einschließlich Westberlin die bisherige Reichsmark
wertlos geworden und durch das neue Zahlungsmittel „Deutsche Mark“, ersetzt worden war.
Jeder Bürger musste mit D-Mark 40,00, dem sogenannten Kopfgeld, den Anfang machen.
Alle Kommentare und Gespräche des Westsenders drehten sich um das eine Thema: Währungsreform und deren
Folgen.
Diese Meldung schlug auch unter den Dorfbewohnern wie eine Bombe ein.
Ein gefährliches Wissen, denn dadurch wurde offenkundig, wie viele Bürger diesen verbotenen Sender
hörten.
Die Sensation bestand allerdings darin, dass durch die Währungsreform ein sogenanntes Wirtschaftswunder
ausgelöst worden war.
Das Wunder bewirkte nämlich, dass es schlagartig - man höre und staune - alles wieder zu kaufen gab, worauf bis dahin verzichtet werden musste und nur geträumt werden konnte.
Dabei ging es - ich nenne nur einige Beispiele - um: Butter, Fleisch und Wurstwaren, Zigaretten, alkoholische Getränke sowie Gebrauchsgegenstände aller Art, von Bekleidung angefangen bis hin zu Fahrrädern und Rundfunkgeräten etc.
Wie dies so plötzlich möglich war?
Nun, es handelte sich dabei um Artikel, die von den Geschäftsleuten gehortet worden waren und jetzt in den
Verkauf gelangten.
Kurz und gut, man konnte alles bekommen, soweit man genügend von dem „neuen Geld“, der DM in der Tasche
hatte.
Mit dieser Währungsreform wurde aber nicht nur ein Wunder vollbracht, sondern die Teilung Deutschlands in zwei
Staaten vollzogen.
Die Reaktion der Sowjetunion auf die Währungsreform in den drei Westzonen erfolgte stehenden Fußes.
Am 23.06.48 wurde bei uns, in der sowjetischen Besatzungszone ebenfalls eine Währungsreform durchgeführt, jedoch gab es zu dieser Zeit noch keine neuen Banknoten.
Die Reichsmarkscheine erhielten zunächst einen Couponformaufdruck „Mark der deutschen Notenbank“.
Wir bekamen RM 70,-- im Verhältnis 1:1, gewechselt, höhere Summen konnten im Verhältnis 1:5 und Beträge ab RM 1.000 im Verhältnis 1:10. umgetauscht werden.
Als der sowjetische Versuch scheiterte, diese neue Ostwährung auch auf ganz Berlin auszudehnen, begann die
Berliner Blockade, das hieß, alle Zugänge nach Westberlin bis auf einen schmalen Luftkorridor, wurden von den Sowjets gesperrt, um die Bevölkerung quasi auszuhungern.
Die Antwort der Westalliierten war die Bildung der sogenannten Luftbrücke.
Ein Jahr lang zogen über unseren Köpfen viermotorige amerikanische Transportflugzeuge, die liebevoll den Namen „Rosinenbomber“ erhielten, nach Berlin.
Sie waren beladen mit allen lebenswichtigen Gütern, im Winter sogar Brennmaterial.
Das war eine tolle Leistung der Amerikaner, die dadurch die Herzen der Deutschen eroberten.
Ihnen war es zu verdanken, dass sich der Lebensstandard in Westberlin mit dem im Westen messen konnte.
Was unternahm zur gleichen Zeit die inzwischen neugegründete DDR?
Wer dachte, die Währungsreform hätte hier ebenfalls kurzfristig etwas gebessert, lag total daneben.
Daran änderten auch nichts die 5-Jahrespläne, Wettbewerbe und Hennecke Bewegungen, die dies mit der Überfüllung des Plansolls bewirken sollten.
Der Großteil der Bevölkerung wurde über die Konsumgenossenschaften versorgt. Überall entstanden kleine Läden, die solche Ware führten, welche es auf Lebensmittelkarten gab. Private Geschäfte existierten so gut wie gar nicht mehr.
Um auch höheren Ansprüchen zu genügen, gründeten man die sogenannten Läden der staatlichen Handelsorganisation
(H0).
Diese führten Qualitätsware, die aber nur mit der neuen West DM erworben werden konnten. Und die gab es - hauptsächlich von Westbesuchern stammend - nur unter der Hand.
Es begann die Phase der Unzufriedenheit und Abwanderungen. Noch hatte die Bevölkerung die Möglichkeit, dies über die beschränkt durchlässige westliche Staatsgrenze oder aber Westberlin durchzuführen.
Obwohl zunächst im Westen auch noch nicht nach Berichten meiner Eltern alles Friede, Freude, Eierkuchen war, machte sich doch langsam, aber eine immer deutlicher, eine Verbesserung der Lebensverhältnisse bemerkbar.
Die mir auf dem Postweg übersandte modische Lumberjacke, schick aus Cord, geschnitten mit Reißverschlüssen besetzt, wirkte auf die Dorfbewohner provozierend, denn ein Großteil der Bevölkerung lief noch 1949 in den zerschundenen Kriegsklamotten herum.
Wir qualmten normalerweise Zigaretten aus Eigenbau oder heimischen Ressourcen.
Eine Zigarettenfirma in Bad Langensalza hieß „Clemens“. Über diese wurde der Schlager, die Räuberballade, gesungen von Bully Buhlan, spotthaft umgedichtet. Der richtige Text lautete: „Es war einmal ein Räuber, der lebte tief im Wald. Er liebte alle Mädchen, jung und alt usw.“ umgedichtet wurde daraus: "Es war einmal ein Räuber, der lebte tief im Wald. Er rauchte Clemens Tabak und starb bald.“
Im Westen rauchte man amerikanische Zigaretten. Die schmeckten durch eine Spezialfermentierung völlig anders als unsere Deutschen.
Schon vor dem Wirtschaftswunder waren sie als Zahlungsmittel auf dem Schwarzmarkt überaus begehrt.
Sie hießen: Chesterfield, Colli, Peter Stuyvesant, Lucy Strike,
Camel etc. Jetzt waren sie für jedermann erhältlich.
Mit eine dieser Sorte wurde ich von meinen Eltern gut versorgt. Aber nicht nur ich, sondern auch meine Freienbessinger Freunde profitierten davon.
Ich meine, mich erinnern zu können, dass auch der SED-Parteivorsitzende ein solches Produkt aus dem
kapitalistischen Ausland nicht verschmähte.
Die großen Ferien verbrachte ich, solange es die „Grüne Grenze“ zuließ, meistens in Mülheim bei meinen
Eltern.
Das Überqueren war nicht ungefährlich, da diese von Rotarmisten bewacht wurde, die so manchen Grenzgänger zu
„Vermisste“ machten.
Zweimal wurde ich auf dem Rückweg erwischt, aber nur jedes Mal für eine Nacht eingebunkert.
Während meiner Aufenthalte in Mülheim konnte ich mir ein objektives Bild über die westdeutschen Verhältnisse verschaffen.
Ich erlebte die Mülheimer Pfingstkirmes, die auf die ganze Stadt verteilt in den Trümmerlücken aufgebaut war, wo die Hauptgewinne an den Losbuden aus Fresspaketen, die aus mehreren Stücken abgepackter Butter und Wurstringe bestanden.
Mir fielen die modern gekleideten Menschen auf, wie sie über die Schlossstraße gut gelaunt flanierten.
Welch riesiger Unterschied machte die Lebensqualität hier gegenüber der Zone aus.
Die alten Mülheimer Freunde gaben sich jedes Mal große Mühe, mich zum Bleiben zu überreden.
Ihre Argumente reichten mir aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus, denn die Kinder, das Dorf und ein Teil der
Menschen dort, waren mir inzwischen ans Herz gewachsen.
Darüber hinaus schien es mir ungewiss, ob ich die Lehramtslaufbahn in der hier jetzt geläufigen Form hätte weiter fortsetzen können.
So trat ich mehrmals den risikoreichen Rückweg über die vom „Iwan“, so hieß der Spottname für die Russen, bewachte Grenze an.
Das Wirtschaftswunder in Westdeutschland wirkte inzwischen magisch auf die DDR-Bürger.
Innerhalb kürzester Zeit flüchteten sie zu Tausenden über die westliche Grenze, hauptsächlich aber über
West-Berlin.
Dazu verschärften sich die Einflussnahme des Staates auf die Bevölkerung in immer drastischerer Form.
Auch aus unserem Dorfe flohen die Bauern über Nacht, weil sie ihr Soll nicht erfüllen konnten. Die Bespitzelungen nahmen zu.
Auch mir wurden die Produkte aus dem „Golden Westen“ vor allem aber zu enge Familienbindung angekreidet.
Es kam nicht zuletzt so weit, dass meine Privatpost geöffnet und zensiert zum Kreisbildungsamt in Langensalza
gelangte.
Ich wurde vorgeladen, wo mir der Schulrat in Gegenwart von vermutlich Stasiangehörigen zur Auflage machte, die
DDR in meinem Briefwechsel positiver darzustellen.
Auch ging mir die Verherrlichung der Sowjetunion und der damit verbundene Personenkult, immer mehr an die Substanz, sodass in mir und meinem Kollegen der Gedanke reifte, dem Arbeiter- und Bauernstaat für immer den Rücken zu kehren. Allerdings hat auch die Verlockungen des Wirtschaftswunders eine nicht unwesentliche Rolle gespielt.
An einem Sommertag im Juni, kurz vor Sonnenaufgang, schafften wir dann in der Nähe von Fulda die
Grenzüberschreitung, wurden nicht von den Russen geschnappt, sondern von den Amerikanern und in das Flüchtlingslager Gießen verfrachtet.
Der Weg zum Wirtschaftswunder führte dann über steinige Pfade und Schluchten, flankiert von Hindernissen, Rückschlägen und Enttäuschungen.
Da existierte keine Willkommensgesellschaft, die Wünsche ohne Gegenleistung erfüllte. Da hieß es anpacken, denn
„ohne Moos nichts los!“.
Um an das nötige Kleingeld zu kommen, gehörten Beziehungen oder ein ordentlicher Beruf, den ich zu haben glaubte, aber dieser wurde in der Bundesrepublik nicht voll anerkannt.
Hier waren bekanntlich noch die alten Nazilehrer in Amt und Würden, man hatte nicht auf Neulehrer aus dem Osten
gewartet.
Von meinen Eltern unterstützt, erlernte ich mit 23 Jahren von der Pike auf den Großhandelskaufmannsberuf, der
in der Wirtschaft größere finanzielle Chancen als der Lehrerberuf bot.
Den ersten Wunsch mit selbst verdientem Geld erfüllte ich mir mit der Anschaffung einer Lambretta, die im
Gegensatz zu dem damals gebräuchlichen Motorrad auch in Sonntagskleidung gefahren werden konnte.
Ganz abgesehen davon bot sich mit diesem Modell schneller die Möglichkeit, etwas Weibliches für den Soziussitz
zu kommen.
Die folgenden Jahre verliefen dann mehr oder weniger normal, aber jedenfalls so, dass man gut leben und sich einiges leisten konnte. Nach Auskosten der Junggesellen Zeit lernte ich meine Traumfrau kennen.
Ein Jahr nach der Verlobung erfolgte die Hochzeit.
Als junges Paar wohnten wir 4 Jahre beengt bei den Schwiegereltern in einer Krupp`schen Wohnung auf der Heimaterde in Mülheim-Heißen. Bevor unsere Tochter das Licht der Welt erblickte, schaute ich mich intensiv nach einer Wohnung um. Die fand ich in Styrum. Obwohl ich diesen Stadtteil unter allen Umständen meiden wollte, 72 m² groß, in einem Neubau, verkehrsgünstig und ruhig.
In ihr wohne ich, allerdings inzwischen alleine, nach 61 Jahren (heute 2024) immer noch und werde hoffentlich auch mein Leben unter diesem Dach beenden.
Fazit: Ich habe vieles aufgeben müssen, habe aber auch vieles durch harte Arbeit wieder dazugewonnen, wobei das sogenannte Wirtschaftswunder mit einem Großteil daran beteiligt war.
Meine erste Reise mit 6 Jahren 1934 nach Holland
lch wohnte zu der Zeit in Mülheim Heißen auf der Heinrichstraße in der Nähe der damaligen Zeche Wiesche.
Ein Bruder mütterlicherseits hatte in Bochum die Bergbauschule besucht und war, weil in Deutschland große Arbeitslosigkeit herrschte, in Heerlen limburg, auf einer Zeche in Südholland, mit dem schönen Namen „Emma ", wie auch meine Mutter hieß, als Steiger tätig.
Meine Cousine Helga, war 14 Jahre alt geworden und die Konfirmation stand an. Dazu wurde die nächste Verwandtschaft, die aus ca. 20 Person bestand eingeladen. Jeder wusste da noch nicht, wo Holland lag. Die Vorbereitungen ließen allerdings vermuten: sehr weit weg.
Es muss März/ April gewesen sein, als die Koffer gepackt wurden. Große Geschenken enthielten sie nlcht, denn das Geld war knapp und die Reise für unsere Verhältnisse sehr teuer.
Am Vortag des Ereignisses versammelten sich die Familienmitglieder pünktlich auf dem Steig des Bahnhofs Mülheim, dem heutigen S- Bahnhof West (einen Hauptbahnhof gab da noch nicht in Mülheim).
Auf die Minute genau lief auch der Zug ein. Die Dampflokomotive zog sechs Waggons. Jeder Waggon hatte ca. 7 Coupes, jedes eine eigene Eingangstür.
Das Abteil fasste acht bis zehn Personen, sodass unser Familienverband 2 davon komplett belegten. Die Bänke waren aus Holz, ungepolstert und an den Rückwänden über den Köpfen mit sehr hoch angebrachten relativ schmalen Gepäcknetzen versehen. Wenn auf ihnen das Gepäck nicht fachgerecht gestapelt wird, stellt dies bei ruckartigen Situationen eine Gefahrenquelle für Kopf und Kragen dar.
So dampften wir am frühen Morgen durch die flache niederrheinische Landschaft, zunächst am rauchenden Schloten und dann an grünen Wiesen vorbei in Richtung Aachen.
Zu dieser Zeit gab es natürlich noch keine Klimaanlage und die Entlüftung musste manuell von den Passagieren selbst organisiert werden.
Die Scheiben konnten mittels eines breiten Lederriemens herabgelassen oder hochgezogen werden.
Da es bei offenem Fenster zog, musste kurz danach die Scheiben wieder herabgelassen werden.
Auf Grund der Tatsache, dass ich einen Fensterplatz belegte, riss ich mir eigenmächtig das Klimatisierunsamt unter den Nagel und sorgte für vernünftige Luft. Wahrscheinlich waren die Intervalle zu kurz und nervten, denn meine Mutter gab den Befehl:" Lass endlich die Finger davon!"
Wir fuhren nach meinen Begriffen unendlich lange. Ich kannte ja nur die Strecken mit der Straßenbahn vom der Haltestelle Wiescher Weg bis zur St dtmitte.
Als der Zug an einem Bahnhof länger hielt, erklärte man mir, dass wir jetzt nicht mehr in Deutschland sondern Holland sind.
Zwei Männer in Uniform kletterten nun in unser Abteil und fragten auf holländisch ,,Je--hebt-iets te melden?"
Dass hieß, ob jemand was zu verzollen hat. Meine Angehörigen schüttelten allesamt mit dem Kopf und sagten:" Nee!" Die Sache schien damit geklärt zu sein, denn die Männer zogen wieder ab.
Die Fahrt dauerte dann auch nicht mehr lange, und ich kann mich nur noch schwach besinnen, dass wir dann von dem Onkel und der Cousine abgeholt und geschlossen mit der Tram - sprich Straßenbahn - das schon vorher vom Hörensagen schmucke Einfamilienhaus ansteuerten.
Besonders beeindruckten mich die mit weißem Rahmen umsäumten großem Fenster, durch die man von außen in die geräumige Wohnung bis in den
dahinter befindlichen Garten schaute. Hier konnte man im wahrsten Sinne des Wortes den richtigen „Durchblick" bekommen, weil die Gardinen fehlten.
Das war in ganz Holland gang und gäbe. Hatten die Menschen nichts zu verbergen, oder wollten sie sich vor einer wie gemunkelt wurde, üblich gewesene Gardinensteuer drücken. ( Übrigens eine Gardinensteuer hat es nach meinem heutigen Wissensstand nie gegeben.
Diese besondere holländische Wesensart entwickelte sich in der calvinistischen Glaubenslehre vor dem Dreißigjährigen Krieg: offen nach außen und innen zu sein!).
In der Mitte des Wohnzimmers, welches durch Schiebetüren von dem
Esszimmer getrennt war, stand ein Klavier auf dem meine Cousine Helga am späten Nachmittag zur Unterhaltung gekonnt den „Donauwellen -Walzer" und eine holländische etwas ältere Freundin als Höhepunkt des Programms das herzergreifende Tangolied „Du schwarzer Zigeuner" zu Gehör brachten.
Während wir Jüngeren nach dem Abendessen eine Schlafstätte zugewiesen bekamen, veranstalteten die Erwachsenen schon eine kleine Vorfeier.
Der Gesang, wie „Einmal am Rhein" und „lck mög' ze Foos noch Kölle jon!" ließen nicht ausschließen, dass dabei Alkohol mit im Spiel gewesen sein konnte.
Am anderen Tag fand das große Ereignis statt, weswegen wir nach Holland gefahren waren.
Ich kann mich nur noch darauf besinnern, dass ich brav auf der Bank sitzen, die Hände faltete und mir hin und wieder Gesang anhören musste, dessen Texte ich nicht verstand und die Melodien nicht meinem Geschmack entsprachen.
In der Erinnerung blieben: die ulkige holländische Sprache, die schönen Klinkerhäuser, die sauberen Straßen, die langen Trams und und nicht zuletzt eine Sorte Eier, die in großen Gläsern salzig eingelegt und mit Öl sowie scharfem Senf gegessen wurden, die sogenannten Soleiern. Als ständige Kindernahrung eigentlich nicht zu empfehlen.
Die Erwachsenen lernten andere Dinge schätzen: den Genever und Bohnenkaffee. Beide schmeckten gut und waren für deutsche Verhältnisse sehr preiswert.Verständlich, dass Köstlichkeiten dieser Art, im Rückreisegepäck immer ein Plätzchen verdient hatten.
Dann kann der Tag des Abschiednehmens. Das Gepäck war merklich schwerer geworden.Dieses Mal dauerte es nicht so lange, bis die Grenze erreicht war und der Zug länger hielt.
Wieder stiegen uniformierte Männer in das Abteil und fragten nun auf deutsch: ,,Haben Sie etwas zu verzollen? Jetzt nannten sie die infrage kommenden Dinge beim Namen, die da lauteten: Schnaps, Zigaretten, Kaffee etc. Als das Wort Kaffee fiel, wurde ich hellhörig und als alle wieder mit dem Kopf schüttelte und im Chor: ,,Nee" sagten, wollte ich zeigen, dass die häufig auf mich bezogende Behauptung, nicht hören und sehen zu können, unzutreffend war. Ich hatte ja beim Packen zugesehen und - gehört , wie Tante Minni meiner Mutter flüsternd Ratschläge für die besten Verpackungstricks gab.
ln Gegenwart der uniformierten Männer erinnerte ich meine Mutter für alle gut hörbar und voller Stolz: ,,Weißt du nicht mehr, dass wir von Tante Frieda einige Pakete Kaffee bekommen haben?"
Meiner Mutter blieb die Spucke weg und die anderen Familienangehörigen hielten den Atem an. Sie ahnten alle, was nun kam, nämlich die schroffe Aufforderung: Alle das Gepäck öffnen.
Das Abteil verwandelte sich ein Schlachtfeld. Nicht nur Kaffee sondern auch einige Fläschchen Schnaps kam zutage.
Jedermusste sein Geldbörse zücken und Zoll zahlen.
Was ich nach der Weiterfahrt zu hören bekam, war zunächst sehr heftig, schwächte
sich aber bald ab.
Immerhin hatte Ich die Wahrheit gesagt und lügen soll man ja als Kind und auch als Erwachsener im wahren Leben nicht.
Von möbelierten Zimmern hin zur eigenen Wohnung
Viele Menschen konnten sich nach dem 2. Weltkrieg glücklich schätzen, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Andere hausten in Ruinen, in provisorisch zusammengezimmerten, wohnraumähnlichen Gebilden.
Wenn ein Haus nur wenig beschädigt oder wieder bewohnbar gemacht war, hieß es: Familien zusammenrücken.
lch lebte Ende 1945, 17 Jahre alt, mit meinen Eltern wieder auf dem Zimmer, welches uns 1943 in der Villa des Langensalzaer Steinbruchbesitzers Schroders zugewiesen worden war.
Die restlichen Raume hatten russische Offiziere beschlagnahmt, die sich aufgrund ihrer Unberechenbarkeit nicht unbedingt als angenehme Nachbarn erwiesen.
Das Zimmer hatte eine Zentralheizung. Da aber das Heizmarerial fehlte, blieb diese meist kalt und wir mussten uns während des legendären Super-Winters1945/46 sprichwortlich ,,warm anziehen".
Als sich die Eltern wieder nach Mülheim abgesetzt hatten, lebte ich 1969 als ,,Lehramtsbewerber" alleine in der damaligen Ostzone.
Während der Ausbildung wechselte ich öfters die Örtlichkeiten. In der Stadt wohnte ich möbliert, auf dem Dorf stand mir meistens Wohnraum im Schulgebäude zur Verfügung.
Die Ausstattungen waren spartanisch und hatten aufgrund von häufig anderen Bewohnern an Eleganz sichtbar eingebüßt.
An eine Schulwohnung, sprich Schlafstatte in der Gemeinde X muss ich heute noch immer schmunzelnd zurückdenken.
Man stelle sich folgende Situation vor:
Die Gemeinde brauchte eine neue Amtsstube und guckt sich ausgerechnet in der Schute danach um.
lch hatte derweil 2 Zimmer im 1. Stock zur Verfügung, von denen ich eins abgeben und die Schlafeinrichtung in dem verbliebenen unterbringen sollte.
Alles schön und gut, aber das Bett und der Kleiderschrank wurden die inzwischen gemütlich eingerichtete Junggesellenbude verschängelieren.
Da entdeckte ich erstmals eine Nische auf der Ebene des Amtsstubeneingangs, die schon immer vorhanden, aber von mir bisher nicht wahrgenommen worden war. lch schaltete sofort: Mensch, das ist die Losung!
Gedacht, gemacht. Im Schutze der Dunkelheit ging ich ans Werk und montierte Bett und Schrank in die Lucke. Bei etwas groBzugiger Betrachtung konnte man sagen: ,,Es passt!"
lch achtete akribisch darauf, dass sich das Bett wahrend der Buro- bzw. Sprechzeiten immer als unbenutzt prasentierte.
Auf diese Weise ging mein Wunsch auf ein wohnliches Zimmer ohne Schlafzimmercharakter in Erfiillung.
Erfreulich war, dass trotz Bekanntwerdens der tatsachlichen Verwendungsweise, diese Art von Wohnbereichserweiterung weder Kritik noch bosartigen Spott taut werden lies.
Das Wohnen zwischen 1947 und 1952 war dann wieder ganz anders, keineswegs aber komfortabel.
Nach der Flucht in die Bundesepublick 1952 wohnte ich mit 28 Jahren wieder bei den Eltern, schlief auf dem Sofa, bis mir vom ,, Hausherrn", mit dem ein familiares Verhaltnis bestand, mir im 3 Stock ein bis dain dahin unbewohntes Mansardenzimmern iiberlassen wurde.
Das freudige Ereignis hatte aber einen kleinen Haken, denn ich musste, um in das Zimmer zu gelangen, durch das Buro des Schwiegersohnes, seines Zeichen Dipl. lngenieur. u. Architekt.
Problemlos, wenn niemand anwesend war, anders aber wenn er arbeitete oder Kundenbesuch hatte.
Nun, irgendwie verstand ich es, Begegnungen zu vermeiden bzw. zu umgehen.
lnzwischen lernte ich meine Frau kennen. Sie wohnte auf der Heimaterde und ich an der Grenze HeiBen zu Winkhausen.
Nach zwei Jahren Verlobtseins lebten wir immer noch getrennt.
Als der altere Bruder meiner Frau heiratete und auszog, wurde ich annimiert die Lucke im Familienverband durch meinen Zuzog wieder auszufullen.
Das geschah naturlich erst dann, als ich meine Braut in den Hafen der Ehe manovriert hatte.
Der zweite Bruder wurde auf das Sofa in der Wohnkuche komplimentiert und meine Frau und ich bekamen den freigegebenen Schlafraum als Wohnzimmer.
Eine Dachkammer in einer Ecke des Dachboden, bis jetzt als Plunderdepot benutzt, richteten wir als Schlafkammer her und komplettieren damit unseren bescheidenen Wohnkomfort.
Es passten gerade mal ein Bett und ein schmaler Kleiderschrank hinein.
Wenn man aus der Tur trat, befand man sich direkt unter den schragen Dach und konnte durch die Ziegeln in den Himmel blicken.
Nachts waren immer die unterschiedlichsten Gerausche zu horen : hier Piepsten die Vogel wahrend der Abendstunden in ihren Nestern, auf den Holzdielen horte man mitten in der Nacht immer mal das Tippeln von unliebsamen vierbeinigen Nagern und als Kronung dann das Rumpeln eines Siebenschlafers, der seine Schnelligkeit demonstrierte und alles was nicht standfest war, gerauschvoll in Bewegung setzte.
Wir wollten diesen Unruhestifter auch nicht vertreiben, denn wenn man ihn mal zu sehen bekam, blickte er unsmit groBen Augen an, als wenn er sagen wollte: ,, Lasst mich doch, ich tu euch ja nichts.
Wir lieBen den kleinen Kerl gewahren. denn man konnte dem niedlichen Wesen nicht hose sein.
Auf der Heimaterde lebte ich nun in einer Gemeinschaft, bestehend aus 5 Familienmitgliedern, den Schwiegereltern - wobei der Vater schwer unter Asthma und die Mutter unter Migrane litt - demSchwager sowie meiner Frau und mir.
Es gab kein Badgeschweige eine Dusche, die einzige Versorgungsstelle warder Kran in der Kuche uber dem großen Steinbecken .
Eln ausgeklugelter Zeitplan sorgte fur einen reibungslosen Ablauf, denn auBer den Schwiegereltern waren alle berufstatig.
Die Toilette befand sich in der auBersten Ecke der weitraumigen Eingangshalle, gleich neben dem unbewohnten Schweinegatter.
Das letzte Borstenvieh hatte wahrend des Krieges sein Leben lassen mussen.
Erwahnenswert war das problemlose Zusammenleben. Rucksichtsnahme und Toleranz bildeten dabei die Grundlage, zumal meiner Frau streng katholisch und ich protestantisch erzogen worden war.
1962 erblickte dann Unsere Tochter Heike das Licht der Welt und alle alle waren happy.
Trotzdem wurde nun das Leben in der kleinen Wohnung mit Kind etwas schwieriger.
Ein Ende dieser Situation war aber kurzfristig abzusehen, denn ich hatte mich vorher nach einer bezahlbaren Wohnung erfolgreich bemuht.
lch konnte noch weitere Lichtblicke aufzahlen, kurz und gut, in meiner Wohnung und in meinem Styrumer Karree lieB und lasst es sich Leben. Nachdem ich mein Haupt schon auf viele meist unbequeme Lager niederlegte, lebe ich seit 62Jahren.
Kriegseinsätze: Zusammenarbeit von HJ und Schule
Luftschutzdienst
Der Krieg brach aus, als er 10 Jahre war. Zu dieser Zeit wurde der Dienst in der DJ schon etwas strenger. Die Schule und die HJ arbeiteten nun verstärkt zusammen. Mit Beginn der Luftangriffe auf
Mülheim ab 1940/41 wurden er und seine Kameraden zum Luftschutzdienst in der Mädchenmittelschule in der Von-Bock-Straße eingeteilt oder in die Wirtschaft Ternieden, die angeblich einen sicheren
Luftschutzkeller bot. Dort mussten sie zeitweise fast jede Nacht ab 01:00 Uhr Wache halten.
Zuvor hatten sie einen Kursus erfolgreich absolviert, wie man Brandbomben mit einer Feuerpatsche löscht und somit Großbrände verhindert. Mit einer Feuerpatsche kann man Feuer bis zu einem Meter
ausschlagen. Das war eine recht begehrte Einteilung, weil sie so am anderen Tag keine Hausaufgaben machen mussten oder schon mal frei bekamen, wenn Fliegeralarm war. Um das Lernen und den
Unterricht war es teilweise sehr schlecht bestellt; und trotzdem mussten sie das Pensum absolvieren.
Um sich die Zeit etwas zu verkürzen, hörten sie auf dem eigens mitgebrachten Grammophon seiner Eltern Musik, zu der dann auch Tanzschritte eingeübt wurden.
Nachts ging es in der ersten Zeit noch einigermaßen friedlich zu. Aber so ab 1940/1941 waren die ersten Flieger über Mülheim zu sehen. Es ging mit dem Fliegeralarm los, der in immer kürzeren Abständen zu hören war. 1942 kam es zu einem großen Angriff auf Essen. Mülheim-Heißen, wo Horst Heckmann wohnte, liegt an der Grenze zu Essen, und dort bekamen die Bewohner die Notabwürfe von etlichen Bomben zu spüren, die die ganze Heinrichstraße erfassten. Auch einige seiner Kameraden kamen dabei ums Leben. Sie wurden gemeinschaftlich begraben.
Heckmann war gerne mit seinen Kameraden zusammen
Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde die Flak in Mülheim-Heißen (Geschütze von 8.8) durch die in Mülheim-Menden verstärkt, und danach kam noch die Bottroper Flak (Geschütze von 10.8) dazu. Zu Anfang des Krieges flogen die Engländer in vielleicht 4500 m Höhe, ein leichtes für die Flak. An allen möglichen Stellen waren Fesselballons angebracht, die dann bei Alarm aufgelassen wurden und die Tiefangriffe unterbinden sollten. Insbesondere die Zeche Wische in seinem Stadtteil Heißen war ringsherum mit Ballons bestückt.
Auch Horst Heckmann war seit 1940 als Flakhelfer eingesetzt im Rahmen von Hilfeleistungen und Aufräumarbeiten während und nach Bombenangriffen. Doch außer eine Feuerpatsche und einer Kiste Sand hatte er nichts weiter zur Verfügung.
Flugzeugabsturz
An einen Flugzeugabsturz im Jahre 1942 erinnert sich Horst Heckmann noch sehr genau: Ein Flieger wurde von 5 oder 6 Scheinwerferkegeln bei klarem Himmel erfasst – ein Himmelfahrtskommando für die Besatzung. Um höher steigen zu können, wurden Bomben abgeworfen, denn die Flak hatte nur eine gewisse Reichweite nach oben. Er und seine Kameraden feuerten darauf, was das Zeug hielt, und dann sah man hinten am Heck plötzlich ein kleines Lichtsträßchen, das Flugzeug drehte eine Kurve, hinten kam Rauch raus, er drehte noch eine Kurve und nahm dann Kurs auf den Garten der Heckmanns. Alle suchten Deckung im Keller. Da die Bomben schon abgeworfen waren, brachte nur Benzin das Flugzeug zum Brennen: ein Feuermeer über drei/vier Fußballfelder. Die vierköpfige Besatzung segelte mit Fallschirmen herunter und kam kurz vor dem Zaun herunter. Sie wurden von Leuten von der Flak gefangen genommen und weggebracht. Die Bevölkerung schwankte zwischen Mitleid und schweren Beschimpfungen.
Sammelaktionen
Ab 1942 wurden sie offiziell zu „Kriegsdiensten“ herangezogen, und zwar zunächst zum Sammeln. Es wurde alles gesammelt, was nicht niet- und nagelfest war, z. B. Heilkräuter für das Winterhilfswerk. Zur eigenen Aufmunterung sangen sie ein Lied mit folgendem Vers: Eisen, Lumpen und Papier, / ja die sammeln wir. / Für Hermann – ein frecher Vers mit Anspielung des „Lumpen“ Hermann Göring, der zuständig war für die Entsorgungskampagne, wie es damals hieß.
Ernteeinsätze
Immer wieder wurde er mit anderen zu „Einsätzen“ herangezogen. So zupften sie beispielsweise bei der Gärtnerei Kocks am Werdener Weg Unkraut, versetzten Blumen usw. Der Besitzer, Herr Kocks, war nämlich eingezogen, und Frau Kocks hatte Kräfte angefordert.
Im Alter von 14 Jahren kamen sie 1942 einmal zu viert zu einem Kartoffel-Lese-Einsatz in der Lüneburger Heide zum Bauern Kampen. Die Kartoffeln wurden mit dem Zweispänner gerodet, eine Strecke wurde abgesteckt, in der die Kartoffeln aufgelesen werden sollten. Das Füllen in die Säcke musste ganz schnell vonstatten gehen, sie wurden auch angetrieben bis zur letzten Kartoffel einer Reihe. Horst Heckmann hat dafür heute noch das Wort ‚Sklavenarbeit‘ parat. Auch die dort eingesetzten französischen Gefangenen, die ohne Bewachung mitarbeiteten, teilten die Meinung der Jungen.
Beim Torfstechen 1944
Beim Bauern gab es für sie recht gut zu essen. Nach den Einsätzen blieb freie Zeit, und so gingen sie nachts schon mal „Fensterln“. Sie verließen mit einer Leiter unterm Arm ihre Schlafstätten, gingen ins Dorf (nach Bühdorf bei Bad Bodenteich) und lernten so ein paar Mädchen kennen. Wie harmlos diese Begegnungen waren, zeigen das gemeinsame Spielen ‚Blinde-Kuh‘ oder ‚Um 12 Uhr stehen die Toten auf‘.
Bauer Kampen muss davon allerdings etwas mitbekommen haben, denn er schwärzte die Jungen bei ihrem Klassenlehrer Thoelke in Mülheim an. Zur Strafe mussten sie einen Aufsatz schreiben: „Lüneburger Heide, Phantasie und Wirklichkeit“ – also vom Heidekraut zu den Kartoffelfeldern.
Freizeitgestaltung
Deutsche Jugend (DJ)
Wie andere meines Alters auch konnte ich die Zeit gar nicht abwarten, bis ich endlich mit 10 Jahren, Anfang 1938, in die Hitlerjugend eintreten konnte, weniger aus politischer Überzeugung (s. Elternhaus), sondern vor allem wegen der vielfältigen sportlichen Aktivitäten und des Gemeinschaftslebens. Das Motto war mir schnell klar und kann es heute noch schnell repetieren:
Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Der Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.
Auch Hitlers Forderung an die Jugend kommt schnell:
Jungvolkjungen müssen sein: zäh wie Leder, flink wie Windhunde und hart wie Kruppstahl.
Der erste Dienst bei der HJ war, dass wir Pimpfe unsere Mutproben ablegen mussten und damit unsere Härte dokumentieren sollten. So robbten wir einmal mit aufgekrempelten Ärmeln über die schotterreiche Geisingstraße, bis die Gelenke blutig waren. Unsere Eltern gingen allerdings sind auf die Barrikaden und haben sich auf der Dienststelle, Wischer Weg 18, über den Jugendführer beschwert, der heute noch auf der Hardenbergstraße wohnt. Danach hörten die Schikanen auf.
Als Pimpf in der Hitlerjugend
Jungvolk
Im Jungvolk vor dem Bismarck-Denkmal
Im Jungvolk wurden zunächst ähnliche Betätigungen vollführt wie in den anderen Verbänden: Es wurde gesungen, Geländespiele gemacht. Dann aber merkte ich schnell, dass wir auf Kriegsereignisse vorbereitet wurden. Aber das war alles in unserem Sinne, denn es waren interessante und mit Sport gepaarte Beschäftigungen.
Dienst
Mein Jungenschaftszug
Dienst in Uniform war immer mittwochs von 15 - 17 Uhr und samstags von 14 bis 17 Uhr. Mittwochs fanden u.a. Heimnachmittage in der Widukindschule, dem Quartier, statt. Es wurden Geschichten gelesen, wir übten, wie man einen Tornister für Fahrten am günstigsten packt; die Biografien besonderer Nazigrößen wurden behandelt, wobei das von Adolf Hitler besonders hervorzuheben und zu würdigen war. Einmal mussten wir einen Vergleich machen zwischen Friedrich dem Großen und Adolf Hitler; es wurden Anekdoten aus seinem Leben vorgetragen ebenso der Lebenslauf beider. Vor allem Heldengeschichten aus dem 1. und später auch aus dem 2. Weltkrieg fanden bei uns Pimpfen immer größerer Beliebtheit.
Samstags verlagerte sich der Dienst nach draußen, teilweise ins Gelände: Hier durften wir Uniform tragen, marschieren, in Dreierreihen antreten, auf Kommandos reagieren, Ausrichten, Abzählen, Strammstehen, kurze knappe Antworten geben; hier wurden solche Lieder gesungen, die den Gleichschritt beim Marschieren unterstützten, das entsprechende Grüßen darf auch nicht vergessen werden.
Heckmann in Uniform
Mit meinen Kameraden am Schießstand
Ich bin sogar gerne in Uniform in die Schule gegangen. Die Station vom Jungvolk war in dem Gebäude der Bismarckschule in Mülheim-Heißen untergebracht, in der gleichen Straße, wo früher die Blücherschule war, die später umbenannt wurde in Wittekindschule. Wir fuhren auch zum Zelten und sangen dabei Arbeiter-, Marsch- und Landknechtslieder. Manchmal wurde sonntags morgens zur Jugendfilmstunde eingeladen.
Später war ich sogar Jungzugführer und hatte 40 Pimpfe unter mir. Bedingt durch die eher kulturelle Bildung von Elternhaus und Kirche gestaltete ich dann die Heimabende mit Vorlesen und Filmvorführungen wie ‚Mecki, der Igel‘ usw.
An eine unangenehme Episode erinnert ich mich heute noch mit Scham: Beim Anziehen eines ziemlich struppigen Pullovers brauchte ich immer die Hilfe meiner Mutter. Lieber zog er sowieso die Uniform an. Als er einmal nicht gerade höflich zu seiner Mutter gewesen war, schlug sie ihn mit dem Holzlöffel. Er war 11 oder 12 Jahre alt und drohte ihr darauf: „Wenn du das noch einmal machst, die Uniform zu schlagen!“
Immer wieder spürte ich den Gegenwind vom Elternhaus, besonders dann, wenn ich mal wieder mit neuen Ideen vom Jungvolk und aus der Schule nach Hause kam.
CVJM
In der gleichen Straße gab es das Gasthaus Fünte (heute Museum und Kulturzentrum), damals das evangelische Gemeindehaus vom Männer- und Jünglingsverein. Dort war meine Mutter aktiv im Gemeindewesen der Bekennenden Kirche tätig, und ich besuchte dort den Gottesdienst.
In der evangelischen Jugendbewegung, in die ich schon 1937 eintrat, fand ich einen Gegenpol, denn hier ging es friedlich zu. Ein Herr Hausmann aus Holthausen las ihnen nachmittags schöne Geschichten vor, was mir sehr gefiel. Zudem war ich dort in der Laienspielgruppe und im Posaunenchor.
Sonntagsblatt und CVJM
Ich vollführte eigentlich einen Spagat zwischen Elternhaus und meinen anderen Betätigungen z. B., indem er von den jüngeren Kindern, die zum Gottesdienst gingen, das Sonntagsblättchen abnahm und es den Eltern vorlegte.
Zwischen Hitlerjugend und CVJM
Rasensportverein Mülheim (RSV)
Auch nach dem 2. Weltkrieg war ich in der Handball-Mannschaft
Als dritte große Freizeitbeschäftigung stand ab 1941 Sport ganz oben: Ich spielte in der Schülermannschaft des Handballvereins RSV Mülheim (-Heißen), immer sonntags um 11 Uhr. Der RSV Mülheim hatte seine Sportanlage in der Nähe der Widukind-Schule, in und an der hauptsächlich der Dienst im Jungvolk (DJ) stattfand. Der Verein spielte damals in der höchsten Handballliga, war zweimal bereits Deutscher Meister. Der Trainer hieß Paul Kosmalla (genannt der Handballprofessor). Nach ihm wurde in Heißen eine Straße, die auch heute noch so heißt, benannt. Herr Kosmalla holte sich den Nachwuchs aus den Reihen, wo auch ich spielte, und rüstete so die Schüler- und Jugendmannschaften auf. Zuletzt spielte ich 1943 in der 1a Jugend.
Filme
Selbstverständlich habe ich auch den Film „Hitlerjunge Quex“ (1939) gesehen, in dem ein Anschlag auf die Hitlerjugend durch einen Kommunisten vereitelt wird. Aufgefallen an der Geschichte war mir sehr wohl, dass hier gegen Kommunisten gehetzt wurde. Ich konnte es aber gleichzeitig nicht damit in Einklang bringen, dass Hitler sich mit Stalin verbündet hatte. Mir fehlten aber damals die intellektuellen Mittel, die Gesprächspartner und die Freiheit, um diesen Widersprüchen auf den Grund gehen zu können. Schließlich hatte man mir eingeimpft, das deutsche Volk brauche Raum, Lebensraum, und der Osten wäre das richtige Terrain dafür.
In Erinnerung sind mir noch folgende Filme: „Heimatland 1939 - 1945“ (1939) – mit Hansi Knoteck, „Quax, der Bruchpilot“ (1941) mit Hans Rühmann, „Münchhausen“ (1943) mit Hans Albers, „Wasser für Canitoga“ (1939) mit Carl Peters, „Trenck, der Pandur“ (1940), „DIII 88“ (1939), „Die große Liebe“ (1942), „Kora Terry“ (1940), „Heimat“ (1938), „Berge in Flammen“ (1931), „Kolberg“ (1945), „Wunschkonzert“ (1940), „Der große König“ (19421), U-Boote westwärts!“ mit Ilse Werner, „Stukas“ mit Hannes Stelzer und „Jud Süß“ (1940) mit Ferdinand Marian und Werner Krauß.
Reichspogromnacht
Am 10. November 1938 fuhr ich wie jeden Morgen mit der Straßenbahn vom Wiescher Weg in die Stadt. Am Viktoriaplatz musste ich aussteigen und den restlichen Weg über die Kaiserstraße hoch zur Schule in der Adolfstraße zu Fuß zurücklegen. Doch an diesem Tag war alles anders. Aus der Synagoge am Viktoriaplatz stiegen dichte Rauchwolken in den Himmel. Neugierig näherte ich mich mit den anderen Schulkameraden dem imposanten Gebäude, aus dem hohe Flammen schlugen. Davor stand eine Menschenmenge staunend vor sich hin murmelnd, viele diskutierten und mutmaßten. Andere wiederum - es waren SA-Leute - grölten: "Juden raus! Nieder mit dem Judenpack!"
Reichspogromnacht
Vor dem Inferno standen zahlreiche Feuerwehren mit schwerem Gerät und, was uns Jungen natürlich sofort auffiel, sie bekämpften nicht die Flammen, sondern richteten die Wasserstrahlen gezielt auf die angrenzende Sparkasse. Das war kein normaler Brand, denn man gewährte den Flammen freien Lauf. Wir konnten zunächst nicht begreifen, was hier vorging, und sahen mit Entsetzen dem rätselhafte Treiben zu.
Erst später erfuhren wir von Passanten, dass „heute die Abrechnung des deutschen Volkes mit den Juden stattfände, die Schuld am verloren 1. Weltkrieg trügen, nur aus Verbrechern und faulem Gesindel bestünden und bisher nur Unheil über Deutschland gebracht hätten. Vor einigen Tagen sei in Paris sogar einen hoher deutscher Beamten von ihnen ermordet worden.“
Verstehen konnten wir das nicht, auch wenn in Zeitungen, aber auch in der Hitlerjugend und Schule alle Juden als minderwertig gebrandmarkt wurden. Ich zweifelte nach wie vor an der Richtigkeit dieser Einschätzung , denn auf die Juden, die ich durch meine Eltern kennengelernt hatte, traf dies Bewertung auf keinen Fall zu.
Wir vergaßen derweil, dass wir zur Schule mussten, und folgten den tumultartigen Geräuschen, die aus einer Nebenstraße kamen. Dort auf dem Löhberg spielten sich entsetzliche Szenen ab. Aus dem Hause der Metzgerei Korthäuer, waren SA Leute dabei, sämtliches Mobiliar aus der Wohnung im 2. oder 3. Stock durch die Fenster rücksichtslos auf die Straße zu schmeißen. Als Krönung brachten man ein zerhacktes Klavier unter großem Kraftaufwand auf gleichem Wege zu Fall, haarscharf an den im Garten Versammelten vorbei, das beim Aufschlagen noch schreckliche disharmonische Töne erklingen ließ. Eine Frau, wahrscheinlich die Wohnungsbesitzerin, wurde von den braunen Uniformierten an den Haaren wieder in das Haus gezerrt, als sie dies schreiend verlassen wollte.
In der ganzen Stadt waren viele Schaufensterscheiben zerbrochen, Geschäfte geplündert und mit Parolen wie: "Kauft nicht bei Juden!“ beschmiert. Bei all diesen Aktionen wagte niemand der Zuschauenden einzugreifen. Für mich war das alles unverständlich, warum die Feuerwehr dieses wunderschöne Gebäude – ich wusste nur, dass das eine Kirche war – nicht löschte und alle nur zuguckten und niemand etwas tat.
Als die Jungen mit viel Verspätung die Schule erreichten, war die Klasse immer noch nicht vollzählig. Der Englischunterricht fiel aus. Der Lehrer wurde mit Fragen überschüttet. Er versuchte die Gewalttaten zu rechtfertigen, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Die Frage mir, ob es denn auch gute Juden gäbe, brachte ihn sichtlich in Verlegenheit. Auf die Antwort, die er darauf bekommen hatte, kann er sich nicht mehr genau besinnen. Jedenfalls hat es sich bestimmt nur um eine der üblichen Phrasen gehandelt.
An diesem Tag wurde ich nachdenklich. Ich konnte es nicht fassen, welcher Pein diese Menschen ausgesetzt wurden. Äußerlich stellte ich mit meinem kindlichen Urteilsvermögen, das durchs Elternhaus christlich geprägt war, keine Unterschiede zu den anderen Menschen fest – das entsprach nicht dem Bild von Juden, das meine Lehrer und die Kameraden in der DJ von diesen entwarfen.
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