Erzählungen von Dieter Schlilling

Übersicht der Texte

 

  • Kindheitserinnerungen
  • Elternhaus
  • Flucht aus der DDR 1985
  • Berufsweg
  • Politisches Geschehen während meiner Kindheit
  • Schulzeit

 

Halle 2020 - Foto privat
Halle 2020 - Foto privat

Kindheitserinnerungen

 

Wohnumgebung 

 

Ich wurde im April 1939 in Halle an der Saale quasi in den Krieg hinein geboren. Meine Eltern waren gerade aus Thüringen wegen der Arbeitsstelle meines Vaters nach Halle gezogen, denn Halle war damals in einem Riesenaufbruch. Bedingt war dieser Vorgang durch die aufkommende chemische Industrie, insbesondere die Leuna- und Buna-Werke, in denen unter anderem Kautschuk verarbeitet wurde, den man für den künftigen Krieg benötigte. Ferner gab es Werke für den Flugzeugbau und andere Industrien, sodass auch in Halle sehr viele Wohnungen, ja ganze Stadtteile neu erbaut wurden. Auch meine Eltern bezogen dort eine 3-Zimmer-Neubauwohnung.

 

Bunker und Luftbedrohung

An einige Dinge im Krieg aus meiner Kinderzeit habe ich eine vage Erinnerung, die begann etwa mit dem Beginn meines 4. Lebensjahres, also ca. 1944. Was davor geschah, weiß ich aus den Erzählungen meiner Mutter. Nachts wurden wir häufig vom Fliegeralarm geweckt, sodass wir dann jedes Mal runter in den hauseigenen Keller mussten. Wir wohnten in einem 6-Familien-Haus, und im Keller war ein Raum, der mit einer Holzverstrebung und einigen Balken stabilisiert war. Wäre das Haus bombardiert worden, hätte es deswegen vielleicht eine Überlebenschance für die Menschen gegeben, die in dem Kellerraum Schutz suchten. 

In dem genannten Raum standen 3 Doppelstockbetten, in denen ich des Öfteren bei Angriffen gelegen hatte. Aus unserem Wohnhaus waren recht wenige Leute in dem Luftschutzbunker, denn unsere Hausgemeinschaft bestand überwiegend aus alleinstehenden Frauen: eine Familie mit 2 Kindern, meine Mutter mit mir sowie aus der obersten Etage ein älterer Herr mit seiner Ehefrau. Dieser Nachbar hatte fast das Rentenalter erreicht und war bei den Siemens Flugzeugwerken beschäftigt. Er war eher selten anwesend, es hing davon ab, welchen Schichtdienst er hatte. Jedenfalls haben wir uns bis 1943 regelmäßig – wenn Fliegeralarm war – in diesem Keller aufgehalten.  Sehr häufig war auch meine Großmutter zu Besuch da. 

Um den zahlreichen Bombenangriffen zu entgehen, ist meine Mutter mit mir mehrfach für eine längere Zeit besuchsmäßig zu meiner Großmutter nach Zeitz gezogen. Als mein Bruder 1943 zur Welt kam, wurde die Wohnung zu klein und wir sind gemeinsam mit meiner Großmutter, die meiner Mutter immer hilfreich zur Seite stand, wieder in unsere Wohnung nach Halle zurück gegangen. 

 

Kinderspiele

An Spielen in meiner frühesten Kindheit kann ich mich kaum erinnern. Auf Grund der Kriegssituation war es besser, in der Nähe der Mutter zu bleiben.

Nach dem Krieg hatten wir einen Abenteuerspielplatz in den Kellerräumen von 4 Häusern, die alle durch Öffnungen in den Kellerwänden miteinander verbunden waren. Dieses wurde damals aus Fluchtgründen gemacht. Auf dem Dachboden war es ähnlich. Wir haben dort als Kinder immer Verstecken oder Indianer gespielt und sind durch die Keller, Treppenhäuser und über die Dachböden getobt. Im Nachhinein muss ich sagen, für die Erwachsenen war das bestimmt keine Freude, wenn wir da mit Indianergeheul durch die Gegend gerannt sind.

Im Sommer ging es meistens zum Baden in ein 3 km entferntes großes Freibad. Meine Freunde und ich sind barfuß und in Turnhose, die Badehose drunter, Handtuch unter dem Arm, losmarschiert. Unterwegs schauten wir regelmäßig beim Bäcker rein und kauften uns für 10 oder 20 Pfennig eine Tüte voll Kuchenrändern von den Obstkuchen. Das reichte uns. So erlebten wir mehr oder weniger eine freudvolle Kindheit. Wir haben das Beste daraus gemacht, und auch die Eltern hatten sich bemüht, uns eine vernünftige Kindheit zukommen zu lassen.

 

Luftangriffe auf Halle

Halle wurde bis Ende 1943 kaum vom Krieg beansprucht. Wahrscheinlich funktionierte die Luftabwehr im Reich so gut, dass die Flugzeuge nicht so weit – die kamen ja von Flugplätzen aus England – ins Land reinkonnten. Die haben also vorwiegend  im Ruhrgebiet ihre Bomben abgeladen, sodass es in Halle meistens Fehlalarm gab, der bald wieder aufgehoben wurde und wir wieder in unsere Wohnung konnten. 

Als 1943 mein Bruder geboren wurde, gaben meine Mutter  und meine Großmutter es auf, sich weiterhin in dem Luftschutzraum im Haus aufzuhalten. Sie suchten stattdessen das Krankenhaus  ‚Bergmannstrost‘ ganz in unserer Nähe auf. Jedesmal wenn es Alarm gab, strömten aus den umliegenden Häusern die Leute dort hin. Das Krankenhaus hatte keinen eigenen Bunker, sondern nur ein riesengroßes rotes Kreuz auf dem Dach. Man verließ sich also auf die Genfer Konvention in der Hoffnung, dass keine Bomben aufs Krankenhaus abgeladen wurden. 

Die Verwaltung des Krankenhauses war übrigens gar nicht daran interessiert, dass viele Leute ins Haus strömten. Zudem war es auch nach der Genfer Konvention nicht statthaft, dass sich dort Zivilisten aufhielten. Aber bei jedem weiteren Alarm gab es großes Angstgeschrei von schutzsuchenden Menschen. Spätestens beim 2. Ertönen der Sirenen strömten alle Schutzsuchenden in das Gebäude, denn dort gab es Räume, in denen teilweise Betten standen. Dort hielten die Leute sich dann auf.  

 

Großangriff auf Halle

Im Frühjahr 1945 kam es  zu einem riesengroßen Angriff auf Halle. Das gesamte Zentrum wurde dem Erdboden gleich gemacht, es hat über 1200 Tote gegeben. Während dieses Angriffs habe ich die Zeit in den Räumen dieses Krankenhauses voller Angst zugebracht. Das Licht ging aus, die Leute schrieen, das ganze Haus vibrierte, es war schlimm. Ältere Leute knieten und beteten. Es war als Kind wirklich fürchterlich, was wir da durchmacht haben. Als der Alarm vorbei war und wir aus dem Krankenhaus herausströmten, schrieen die Erwachsenen alle: Hoffentlich steht unser Haus noch, ist unsere Wohnung noch da. Unsere Wohngegend hatte zum Glück nicht viel abbekommen, aber das ganze Zentrum von Halle lag in Trümmern, Schutt und Asche überall,  Verzweiflung machte sich breit. 

Im Zentrum von Halle und rings um den Bahnhof herum gab es auch die Gebäude der großen Universitätsklinik. Bis an die Klinik ran waren die Häuser wirklich alle dem Erdboden gleich gemacht worden und auch die Universitätsklinik war beschädigt. Die Scheiben waren alle kaputt, aber keine Bombe wurde gezielt auf das Universitätsklinikum abgeworfen. Der Angriff an Karsamstag mitten am Tag, circa um 16 Uhr, und es gab keine Luftabwehr. 

Die  Flieger flogen ziemlich tief, und  sie konnten sich jedes Haus aussuchen, welches sie bombardieren wollten. – Aus meiner heutigen Sicht war das wirklich ein Angriff auf die Zivilbevölkerung, um zu zeigen, was sie erwartet, wenn hier nicht Schluss ist. Es war regelrecht ein gezielter Angriff.

 

Eroberung Halles durch die Amerikaner

Im April 1945 standen die amerikanischen Bodentruppen vor Halle und hatten dem Bürgermeister der Stadt angedroht, wenn es kein bedingungsloses Ergeben von seiner Seite gäbe, würden sie die Stadt dem Erdboden gleichmachen. Es wurden von der US-Army jede Menge Panzergeschütze aufgefahren. Es hatten sich aber ein paar mutige Zivilisten und zwei Militärs gefunden, die in die entsprechenden Verhandlungen eingetreten waren, welche sich allerdings in die Länge zogen. Die Amerikaner hatten es jedoch eilig, sie wollten ihren Auftrag möglichst schnell zu Ende bringen. Da haben sie als Ausdruck eines letzten Warnschusses die Spitze des roten Turmes, der mitten auf dem Marktplatz in Halle steht, abgeschossen, und der ganz Turm, also das Wahrzeichen von Halle, ging in Flammen auf. Das war der letzte Warnschuss und danach hat man sich  geeinigt.

Ich weiß noch, dass meine Mutter und meine Großmutter Betttücher aus dem Fenster hängen ließen, und überall hingen in den Nachbarhäusern ebenfalls weiße Bettlaken als Zeichen der Übergabe. Die Bevölkerung war aufgefordert worden, sich in die Schutzräume zu begeben als Vorsichtsmaßnahme wegen eines Angriffs oder eines möglichen Angriffs. 

Wir saßen also wieder erneut unten in unserem Keller und warteten ab, was auf uns zukommen würde. Insgesamt  waren  wir ungefähr 6 Frauen, 3 Kinder und als einziger Mann der ältere Herr Seeburg, der im Flugzeugwerk arbeitete. Er und seine Frau hatten keine Kinder, und so nahmen sie mich ein bisschen als ihren Enkel an. Herr Seeburg war der einzige Mann weit und breit. Zwischen uns bestand ein guter Kontakt.  

Plötzlich hörten wie die Geräusche von Panzern und anderen Fahrzeugen, und dann stürmten Soldaten in unseren Keller. Ein schwarzer GI mit Gewehr schaute in unseren Kellerraum. Als Kind hatte ich das erste Mal so einen schwarzen Mann gesehen, und die Frauen waren alle erschrocken. Der fragte nur: „Nazi? Nazi?“, und suchte in allen Ecken. Junge Männer waren ja keine da, und damit hatte sich die Sache erledigt. Es war eine große Aufregung, aber mehr war dann nicht. Vereinzelt fielen ein paar Schüsse in der Stadt, denn es gab immer noch einige Verrückte, die das Blatt noch wenden wollten. Im Grunde blieb es aber ruhig. 

 

Alltag mit den US- Amerikanern

Das Problem war nur, unsere Straße bestand aus 4 Häusern, und gegenüber war ein großer Platz. Plötzlich fuhren laufend Fahrzeuge vor. Es waren meistens große LKWs mit Antennen auf dem Dach von irgendeiner Logistikeinheit. Von den 4 Häusern wurden die ersten zwei Gebäude von ihnen belegt. Unsere Wohnung war auch davon betroffen.

In den ersten Tagen durften wir uns noch tagsüber in unserer Wohnung aufhalten, aber abends mussten wir immer im Luftschutzkeller schlafen. Nach ein paar Tagen hatte man für alle ausquartierten Leute der beiden Häuser Unterkünfte gefunden. Wir  bezogen im Nachbarhaus mit einer weiteren Familie eine leerstehende Wohnung, in der sich noch eine Küche befand. Ich kann mich entsinnen, unsere Luftschutzbetten hatte uns jemand in die neue Unterkunft getragen. 

Die Amerikaner benahmen sich recht ordentlich. Für uns Kinder war das immer schön, sie haben öfter mal einen Kaugummi oder Schokolade zu uns rübergeworfen und haben Jux mit uns gemacht. Damals ist mir etwas aufgefallen, was intensiv in meiner Erinnerung haften geblieben ist. Jeden Morgen zog ein toller Duft von gebratenen Eiern über die ganze Straße hinweg. Aber da war noch ein anderer mir fremder Geruch, der mir erst später bekannt wurde, es war der Duft von Bohnenkaffee. Die ganze Straße roch nach Bohnenkaffee! Und heute ist es noch so, wenn ich Kaffeeduft rieche, werde ich immer noch an diese Zeiten erinnert. 

Die Amerikaner besetzten unser Haus und blieben bis zum Juli 1945. Meine Mutter und auch andere Frauen hatten immer abends beobachtet, ob die Damenbekanntschaften der Amerikaner Dinge aus den Wohnungen entwendeten. Das funktionierte wie eine Polizeieinheit. So wurde verhindert, dass das über den Krieg gerettete Eigentum nicht in fremde Hände geriet.

Ansonsten gab es keine besonderen Vorkommnisse. Nur an einen besonderen Tag kann ich mich erinnern: Da flogen aus unseren Fenstern die Kristallgläser auf die Straße. Das war der 8. Mai 1945, die Kapitulation! Die Amerikaner feierten und tranken kräftig einen über den Durst. 

 

Rückkehr des Vaters

In der Zeit zwischen dem Weggang der Amerikaner und des Kommens der Russen war mein Vater aus Belgien zurückgekommen. Er hatte sich mit zwei weiteren Kameraden von seiner Einheit abgeseilt. Der eine Kamerad war aus Aachen und der andere aus dem Raum Kassel.

Die beiden Kameraden hatten durch Verwandtschaft Verbindungen zu Bauern, die schickten jemanden zum nächsten Dorf. Der dort Aufgesuchte kannte wieder jemanden, und auch der kannte wieder jemanden usw., und so sind sie dann bis Kassel gekommen. In Kassel hatte mein Vater ein Fahrrad geschenkt bekommen, und so sehe ich ihn gedanklich noch heute, als er heimkam: auf dem Fahrrad mit einem großen Rucksack und einer großen leeren Tasche. 

Mein Vater fand 1945 natürlich keine Arbeit, und er fing dann bei einem Schrotthändler als LKW-Fahrer an. Er fuhr einen LKW mit Vollgummibereifung und Holzvergaser für diesen Unternehmer. Der Unternehmer war recht pfiffig: Er suchte in den Trümmern nach Metallträgern, schnitt die geraden Stücke raus und fuhr damit über die Dörfer und bot bei Bauern, die was bauen wollten, die Stahlträger gegen was Essbares als Tausch an. Natürlich gab er meinem Vater immer einen gewissen Anteil ab.

 

Wechsel der Besatzungsmacht 

Die Übergabe von Sachsen-Anhalt durch die Amerikaner an die Russen war lange vor Kriegsende vereinbart worden. Sie erfolgte ab Juli 1945. Man muss sich mal vorstellen, die Grenze zwischen der amerikanischen Besatzungszone und der russischen war eigentlich die Elbe. Die Amerikaner und die Russen hatten sich in Torgau an der Elbe getroffen, und alles, was östlich der Elbe lag, war russisch besetzt, und alles, was westlich der Elbe war, war amerikanisch. Dann kam natürlich die Umsetzung des Potsdamer Abkommens, und für West-Berlin wurde dann Thüringen, große Teile Sachsens und von Sachsen-Anhalt aufgegeben, und die Grenze war dann so verlagert, wie sie später Jahrzehnte bleiben sollte.

Als die Russen nach Halle kamen, war ich 6 Jahre alt. Ich habe die Bilder noch vor Augen. Die Russen kamen teils mit LKWs und Pferdewagen mit luftbereiften Rädern. Etliche Leute standen am Straßenrand und sahen den Neuankömmlingen kritisch entgegen. Die Soldaten machten einen völlig ausgehungerten, verwahrlosten und heruntergekommenen Eindruck. Die Uniformen der russischen Soldaten sahen gegenüber denen der Amerikaner, die immer chic und adrett in ihren Sommer- und Winteruniformen daher gekommen waren, zerrissen und schmutzig aus. Es war schon bedrückend, sie so zu sehen.

Die Russen waren nun da, und es gab einige Vorfälle, die den Leuten Angst machten. Außerdem kursierten Gerüchte, aber ich will das auch nicht weiter kommentieren. Mal war ein Fahrrad geklaut, mal passierten schreckliche Dinge, denn es wurde sich an Frauen vergangen. Aber wie gesagt, das bekam ich als Kind mehr oder weniger nur über Gespräche mit.  

Etwa 3 km entfernt von unserer Wohnung befand sich ein großer Friedhof. Dort fanden in regelmäßigen Abständen Beerdigungen von Russen statt. Egal, ob sie nun Kriegsverletzte oder schwer erkrankte Soldaten und deswegen verstorben waren, sie wurden alle in der Mitte eines LKWs in einem offenen Sarg aufgebahrt. Auf dem Brustkorb lag die Mütze, eine Kapelle schritt voran und spielte einen traurigen Marsch. So fuhr der Trauerzug durch die Straßen. – Ansonsten hatten wir zu der Zeit als Kinder kaum Kontakt zu den Russen. Auch die Bevölkerung war ein bisschen abgeneigt.

 

Elternhaus

 

Großeltern

 

Meine Großväter habe ich nicht kennen lernen können, da sie schon vor meiner Geburt verstorben waren. 

 

Zu meiner Großmutter mütterlicherseits hatte ich ein gutes Verhältnis. Meine Mutter und ich waren bis zur Geburt meines Bruders 1943 des öfteren über einen längeren Zeitraum bei ihr zu Besuch. Danach sind wir dauerhaft in Halle geblieben. Meine Großmutter war eine hilfreiche Stütze in dieser Zeit, sie stand meiner Mutter immer zur Seite. Nach dem Krieg zog meine Großmutter ganz zu uns nach Halle.

 

Eltern

 

Meine Mutter wurde 1914 geboren und war von Beruf Verkäuferin. Mein Vater war von 1910 und übte in Halle den Beruf des Revisors aus. Sie stammten beide aus Thüringen und sind 1938 mit der Heirat wegen der Arbeitsstelle meines Vaters nach Halle gezogen. Nach der Eheschließung und meiner Geburt im Jahre 1939 gab meine Mutter ihren Beruf auf und war fortan Hausfrau.

 

An meinen Vater habe ich in meinen ersten Lebensjahren keine Erinnerung, denn zum Beginn des 2. Weltkrieges wurde er – wie so viele Väter damals – zur Armee eingezogen. Nur an ein Weihnachtsfest erinnere ich mich, wo er zu Besuch da war. – Meine Eltern hatten später ein Fotoalbum mit Bildern aus meiner Kindheit als Erinnerung für mich angelegt, aber auch darin sind  kaum Fotos meines Vaters mit mir vorhanden. Aber dies erging sicherlich vielen Menschen so, die in dieser Zeit groß geworden sind.

 

Was es in meiner frühesten Kindheit an Geschehnissen und schrecklichen Ereignissen während des Krieges gab, weiß ich fast nur aus den Erzählungen meiner Mutter. Sie blieb alleine mit mir in Halle, und manches Mal waren wir auch für einige Wochen bei meiner Großmutter.

 

Nach der Heimkehr aus dem Krieg arbeitete mein Vater als LKW-Fahrer, weil er in seinem erlernten Beruf keine Arbeit mehr fand. Meine Mutter war ständig unterwegs, um Nahrungsmittel zu beschaffen, derweil versorgte die Großmutter mütterlicherseits uns Kinder. Für meinen Vater ergab sich bald die Möglichkeit, wieder als Revisor in der Konsumgenossenschaft  Halle-Saalkreis tätig zu werden. Leider verstarb er viel zu früh an den Folgen einer verschleppten Blinddarmentzündung 1957. Nach seinem Tod nahm meine Mutter in der Buchhaltung dieser Konsumgenossenschaft eine Tätigkeit auf.

 

 

Geschwister

 

Ich bekam noch 3 Geschwister: 1943 und 1946 jeweils einen Bruder und 1953 noch eine Schwester. Leider hatten wir 3 Jungen  bedingt durch die Kriegszeit, aber auch durch den Altersunterschied kaum Gelegenheit, miteinander zu spielen. Alle drei Geschwister waren in ihren Berufen erfolgreich. So wurde der 1943 geborene Bruder Elektromeister und meine Schwester war nach ihrem Studium im Binnenhandel tätig. Mein 1946 geborene Bruder übte den Ingenieurberuf aus, verstarb aber leider schon im Alter von nur 55 Jahren.

 

 

Flucht aus der DDR im Jahre 1985

 

Der Begriff „Flucht“ war nach DDR-Behördendeutsch ein ungesetzlicher Grenzübertritt. Wie kann jemand fliehen wollen, aus dem mit Stacheldraht, Mauern und Schießbefehl eingeschlossenen Land. Das ist schon wieder falsch, das ist der „Antifaschistische Schutzwall“. So wurden die Menschen der DDR verarscht. Ich muss es so drastisch nennen.

 

Schon bei dem Bekanntwerden einer Fluchtplanung und besonders bei einem Fluchtversuch wurden hohe Gefängnisstrafen verhängt.

 

Direkt am Eisernen Vorhang wurde sogar auf flüchtende Menschen geschossen.

 

Trotzdem haben es viele DDR-Bürger geschafft. Dabei haben sie alles verloren. Denn eine Rückkehr war mit einer hohen Gefängnisstrafe und anschließenden schweren Eingriffen in das private sowie berufliche Leben verbunden.

 

Ich war über 20 Jahre in einem Forschungsinstitut beschäftigt, war „Westreisekader“ (das waren DDR-Bürger, die aus beruflichen oder offiziellen Gründen, legal ins westliche Ausland reisen durften). Ich erhielt viele staatliche Auszeichnungen und mit meiner berufstätigen Frau hatte ich ein gutes finanzielles Auskommen.

 

Im Herbst 1984 bekam ich das Angebot im Sommer 1985 eine Urlaubsreise nach Jugoslawien zu unternehmen. Ja, so was gab es auch in der DDR, was dem übrigen Volk kaum bekannt war. Der Reisepreis von 8500 DDR-Mark für 2 Personen für 12 Tage war auch nicht ganz billig.

 

Als ich am Abend meiner Frau die Nachricht von unserem Urlaub im nächsten Jahr mitteilte, viel erstmals das Wort „abhauen“. Damit war aber das Thema für die nächsten Monate erledigt.

Im Frühjahr erhielt ich den Bescheid, dass die Reise für mich genehmigt wurde. Meine Frau bekam ihre Reisegenehmigung wenige Tage später durch ihren Chef übermittelt. Jetzt kam das böse Wort „abhauen“ wieder ins Gespräch.

 

Wir wohnten über 15 Jahre in einer Neubauwohnung, als eines Tages am späten Nachmittag, zwei Männer im Blaumann bei uns anläuteten und im Auftrag der Wohnungsverwaltung die Steckdosen überprüfen wollten. Uns war sofort klar, das ist eine Aktion von „Horch und Guck“ (Stasi). Ab diesem Zeitpunkt führten wir unsere Gespräche zum Thema Flucht nur noch im Freien. Wir mussten unser Leben wie bisher führen. Keine Gespräche über das Thema mit den engsten Verwandten und allen anderen Menschen, mit denen wir Kontakt hatten. Keine Verkäufe von Möbeln, Auto usw. kein ungewöhnlicher Geldtransfer. Alles musste so wie immer ablaufen. Das Reisegepäck wurde wie immer gepackt, allerdings etwas mehr als sonst, da es in Jugoslawien auch kalte Tage hatte, auch viel herbstliche Kleidung.

 

Wie das Leben im Sozialismus so ist, bekamen wir plötzlich die Mitteilung, dass unsere 5 Jahre alte Autobestellung in den nächsten Tagen eingelöst werden konnte. Also holten wir den neuen Wagen ab, der alte wurde zu den üblichen DDR – Preisen verkauft.

 

Ein Problem hatten wir noch: Wie können wir unsere Zeugnisse in den Westen bekommen.

Dazu bot sich eine Lösung an.

Im Frühjahr 1985 war eine Tagung in Belgrad zum Thema „Qualitätssicherung Schweißtechnik für AKW“ an der ich teilnehmen sollte. Bei der Vorbereitung der Reise erzählte mein Kollege, dass er in Belgrad in Urlaub war und eingesparte „Dinar“ aus einer Dienstreise dort seinem Reisebudget zugeführt hatte. Damit hatte er großen Ärger bekommen. Er empfahl mir deshalb, die bei der Reise eingesparten Tagegelder dem Prof. Simoncic zu übergeben, um sie im Urlaub dann zu nutzen. Der war Univ. Professor für Fertigungstechnik, Stahlbau und Schweißtechnik der Uni in Belgrad. Der Ort der Zusammenarbeit war in Belgrad.

 

Ich kopierte unsere Zeugnisse und packte sie zwischen meine Arbeitsunterlagen. Am Ende der Reise überreichte ich die Zeugnisse samt dem eingesparten Geld in einem DinA5-Kuvert dem Prof. Simoncic.

 

Beim Abschied freute er sich meine Frau kennenzulernen und versprach, bei unserem Urlaub, uns die schönsten Sehenswürdigkeiten Belgrads zu zeigen.

 

Nach meiner Rückkehr nach Halle lief unser Leben weiter wie bisher.

Am Vorabend der Urlaubsreise besuchten wir wie immer meine Schwester. Das hatte sich seit Jahren so ergeben. Bei der Benutzung der Toilette habe ich ein Kuvert mit unseren originalen Zeugnissen im Badezimmer versteckt. Dort hing hinter einem Vorhang ein Regal mit Putz- und Waschmittel. Dahinter habe ich den Umschlag mit den persönlichen Dokumenten gesteckt.

 

Am nächsten Morgen fuhren wir mit unserem neuen Auto zum Flughafen Berlin-Schönefeld zur Ausreise nach Belgrad. Mein Auto stellte ich auf den Flughafenparkplatz ab. Zur Ausreise wurden vom Reiseleiterin der Personalausweis von uns eingefordert. Führerscheine, die Sozialversicherungs-Ausweise und eine geringe Bargeldmenge waren für die Anreise und Heimreise notwendig. Wir wurden von derReiseleiterin begrüßt. Ungewöhnlich war, dass sie unsere Personalausweise einsammelte. Das war eine Sicherheitsmaßnahme, damit wir nicht mit dem Personalausweis Jugoslawien verlassen konnten. Die Ausreise erfolgte dann mit der namentlichen Nennung der einzelnen Personen.

 

Am späten Nachmittag landeten wir in Belgrad und bezogen unsere Zimmer im Hotel. Ich hatte sofort die Sekretärin von Herrn Simoncic telefonisch von unserer Ankunft informiert. Wir haben unsere Koffer nur mit dem Notwendigsten ausgepackt.

 

Am nächsten Morgen kam Herr Simoncic in den Frühstücksraum und begrüßte uns. Die Reiseleiterin kam „so ganz zufällig hinzu“. Ich klärte sie kurz über den Bekannten auf, der mit großen Worten über unsere gemeinsame Arbeit berichtete und fragte, ob er uns zum Mittagessen einladen könne. Sie entgegnete, dass jetzt eine Stadtbesichtigung für die Reisegruppe ansteht. Er erwiderte, dass er für uns das auch geplant hätte. Damit waren wir die Reiseleiterin erstmals los. Wir verabredeten uns für 13.00 Uhr zum Essen.

 

Nachdem uns alle verlassen hatten, haben meine Frau und ich ein Taxi bestellt und sind zur deutschen Botschaft gefahren. Von einem Mitarbeiter der Botschaft wurden wir mit vorläufigen Ersatzpässen ausgestattet.

 

Alle Dinge, wie den Führerschein, DDR-Geld und andere Dinge, die auf die DDR schließen konnten, haben wir bei der Botschaft gelassen. Es wurden uns ca. 300 D-Mark für die Fahrt und anfallende Aufwendungen auf Leihbasis übergeben. Es wurde uns gesagt, wir sollten bei Kontrollen den Verlust unserer Pässe durch Diebstahl erklären. Wir bekamen auch eine Alibiadresse und die Telefonnummer einer Familie Schilling in Regensburg. Bei Schwierigkeiten sollten wir uns an die Botschaft wenden.

 

Von der Botschaft sind wir zurück zum Hotel und haben die Koffer gepackt. Als Prof. Simoncic kam, habe ich ihm erklärt, dass wir in die Bundesrepublik müssen. Er hatte das gar nicht richtig gecheckt. Er sagte, dass mein Chef doch nicht meinen Urlaub unterbrechen könne. Diese Arbeit könnte eine Woche warten. Ich fragte ihn nur, ob er uns zum Bahnhof bringen würde und beim Kauf der Fahrkarte behilflich sein könnte. Wir packten die Koffer in seinen Wagen und fuhren zum Bahnhof.

 

Da der Zug erst in ca. 4 Stunden abfuhr, haben wir in der Nähe des Bahnhofes noch gemeinsam mit Prof. Simoncic zu Mittag gegessen und einige Gläser Wein getrunken. Es wurde trotz allem eine richtige Abschiedsparty.

 

Wir fuhren zum Bahnhof und nahmen in unserem bereitstehenden Zug nach Wien Platz. Da das Abteil sich immer mehr füllte, habe ich ein Schlafwagenabteil nachgebucht. Nach der Abfahrt in Belgrad sind wir trotz Aufregung eingeschlafen. Der Wein hat wahrscheinlich seine Wirkung hinterlassen.

 

Irgendwann wurden wir durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Wir waren an der Grenze zu Österreich und ein uniformierter Beamter wollte unsere Pässe sehen. Nach kurzer Betrachtung reichte er sie uns zurück und wünschte eine gute Fahrt. Wenig später klopfte es etwas derber an unsere Tür und eine weibliche Zollbeamtin wollte unsere Papiere sehen, die ich ihr auch übergab. Darauf knallte Sie die Tür zu und rief sehr laut nach „Hermann“. Nun ging vor unserer Tür eine heftige Diskussion los, die nach einer Weile damit zu Ende ging, dass unsere Tür aufgerissen wurde und uns unsere Papiere wütend überreicht wurden. Als der Zug losfuhr, wussten wir, es ist geschafft. Der Zug endete in Wien/Südbahnhof.

 

Dort mussten wir zur Fahrt nach München vom Südbahnhof zum Westbahnhof wechseln.Da wir eine Fahrkarte nach Regensburg hatten, habe ich im Zug beim erreichen der Bundesrepublik nach dem Schaffner gesucht. Ich traf aber auf einen bayrischen Grenzbeamten. Der begrüßte mich mit großem Hallo und sagte mir, er klärt das schon. Nämlich das Umschreiben der Fahrkarten von Regensburg nach Gießen. Als der Schaffner kam, war der schon informiert und er stellte für uns eine neue Fahrkarte nach Gießen aus. Darüber hinaus erhielten wir die dazu notwendigen Reiseinformationen.

 

Am späten Freitagabend erreichten wir das Flüchtlingsaufnahme-Lager in Gießen. Ein freundlicher Mitarbeiter begrüßte uns und versorgte uns mit Essen u. Getränken im Speisesaal der Einrichtung.                                                                                                                                                                

 Nach dem Essen erhielten wir unser Zimmer. Die Einrichtung des Zimmers bestand aus zwei Doppelstock-Betten, Tisch, Stühlen und einem Schrank. Auf dem Flur in unmittelbarer Nähe waren die Toiletten und Waschräume.

 

Am nächsten Morgen beim Frühstück waren wenige Leute anwesend.

 

Wir wurden von einem Mann begrüßt, der sich als Leiter der Einrichtung vorstellte. Wir haben uns kurz über die Flucht aus Jugoslawien unterhalten. Er wollte von uns wissen, wohin wir wollen oder ob wir von Verwandten erwartet werden.

 

 Ich hatte ein vages Berufsangebot aus früheren Westreisen in der Nähe von München. Solche Angebote konnten nur ganz vorsichtig behandelt werden, da man nie wusste, ob nicht ein Stasi-Spitzel mithörte. Ich wollte mir das anschauen und dann mit meiner Frau entscheiden. Der Leiter war sehr dafür, zumal er am nächsten Tag eine größere Anzahl von Flüchtlingen bekäme und seine Mitarbeiter voll im Stress seien. Deshalb bat er uns um Verständnis, dass die Bearbeitung unserer Eingliederung in die BRD erst am Dienstag erfolgen könne.

 

Wir haben am Vormittag dann einen „Stadtbummel“ unternommen. Als Erstes haben wir meine Schwester in Halle/Saale angerufen und ihr mitgeteilt wo wir sind, und ich im Bad bei unserem letzten Besuch etwas verschüttet hatte. (Was anderes war mir nicht eingefallen. Zwei Stunden später standen zwei Männer vor der Tür und forderten die Herausgabe der „Sache“. Sie hatte nichts und hatte keinerlei Kenntnis des Geschehens.

 

Hätten die Stasi-Leute etwas gefunden, dann wäre meine Schwester wegen Fluchtbeihilfe in arge Schwierigkeiten gekommen. Außerdem ging das auch nicht, weil das Kuvert im Korridor unter dem Teppich lag und ihr Mann darauf stand.) Da meine Schwester und ihr Mann diejenigen aus der Verwandtschaft mit Telefon waren, hatten sie alle Leute persönlich informiert. In den nächsten Tagen wurde die gesamte Verwandtschaft bei der Stasi vorgeladen und befragt. Sie schreckten auch nicht davor zurück, meine 9-jährige Nichte - in der Schule im Beisein der Schulleiterin - über das Verhältnis ihrer Eltern zu uns auszufragen.

 

Auf den Rückweg zur Aufnahmeeinrichtung in Gießen habe ich Fahrkarten nach Pullach bei München gekauft, um am nächsten frühen Morgen wegen einer Arbeitsstelle dort hinzufahren. Ich bin dort gut aufgenommen worden und es bestand Interesse, obwohl Teile des Arbeitsgebietes für mich völlig neu waren. Weiterhin war der Wohnungsmarkt um München schwierig. Ich habe auf der Rückfahrt lange alles im Detail überlegt.

 

Am Abend in Gießen haben meine Frau und ich entschieden, vor allem wegen der Wohnungssituation, abzusagen. Wir haben uns schließlich für die Stadt Essen im Ruhrgebiet entschieden, weil ich mehrmals und mehrere Wochen bei Dienstreisen die Stadt kennengelernt hatte.

 

An den nächsten Tagen wurde eine Reihe von Vorgängen erledigt, die für Neubürger notwendig sind  (z. B. Renten-u. Arbeitslosen-Versicherung, Steuer, Sozialversicherung usw.) weiterhin erhielten wir einen zinsgünstigen Kredit, der durch eine Bank einlösbar war.

                                                                

 Nach fast einer Woche, an einem Freitag in der Frühe, wurden wir nach Unna-Massen in die NRW-Aufnahmeeinrichtung gebracht.

Die Aufnahmeeinrichtung war wie ein Dorf mit kleinen Häuschen und einem großen REWE-Markt. Alle Flüchtlinge, die hier ankamen, warteten auf die Aufnahmezusage des jeweiligen Ortes. Wir wohnten hier circa eine Woche in einem kleinen Zimmer. Bad u. Küche wurden von allen gemeinsam genutzt.

 

Die Tage verbrachten wir mit Einkaufen und Kochen. Nachmittags sind wir oft spazieren gegangen und durch Geschäfte gebummelt. Beim Einkaufen war Sparen angesagt, da wir  nicht wussten, wie es weiter geht. Es wäre schön gewesen, wenn man einen Ansprechpartner gehabt hätte. Am nächsten Donnerstag, also knapp nach einer Woche, ging es für uns mit einer Gruppe von Flüchtlingen von Unna-Massen per Bus nach Essen. In Dortmund stiegen die Ersten aus, dann Bochum usw. Wir waren die Letzten, die in Essen ausgestiegen sind.

 

Wir konnten es kaum fassen, in welchem Zustand die neue Aufnahmeeinrichtung in Essen war. Das ganze Umfeld war verschmutzt. Überall waren Abfallberge von Altmöbeln und anderem Hausrat. Der Verwalter übergab uns einen Schlüssel und zeigte auf das Haus, in dem unsere Wohnung war.

 

Beim Betreten des Hauses wurde es noch schlimmer. Unser erster Blick fiel im Parterre durch eine offene Tür in eine Toilette. Diese war übersät von Papier, die Brille lag daneben und als Höhepunkt war das Toilettenbecken total verdreckt. Auf dem Treppengeländer war Wäsche zum Trocknen ausgelegt.

 

Unser Zimmer lag in der 1. Etage. In jeder Etage waren 3 Wohnungen. Eine mit 2 Zimmern und zwei Wohnungen mit 1 Zimmer und im Treppenbereich waren zwei Toiletten. In den Wohnungen wohnten Menschen verschiedener Nationalitäten. Unser Zimmer war etwa 25 m² groß und war mit verschieden Möbeln und Paketen übersät. Erste Reaktion von uns, hier bleiben wir nicht. Wir setzten uns erst mal auf die 2 Stühle und berieten über unsere Lage. Ergebnis war, wir müssen bleiben, da unser Budget für ein Hotel oder eine billige andere Bleibe nach wenigen Tagen erschöpft sein würde.

 

Wir stellten dann aber fest, dass die Möbel, Matratzen usw. nagelneu waren. Später haben wir erfahren, dass das alles ein Begrüßungsgeschenk im Wert von 850,00 Mark von der Stadt Essen war.

 

Als später zwei Jugendliche anklopften, und uns in englischer Sprache sowie mit Händen und Füßen erklärten, dass sie uns helfen wollten, haben wir mit der Einrichtung unseres neuen Heims begonnen. Wir haben das Etagenbett in ein Doppelbett verwandelt und den 2-türigen Schrank, den sie schon montiert hatten, zusätzlich verstärkt.

Ich habe den beiden 10 Mark gegeben, darüber haben sie sich sehr gefreut. Später habe ich erfahren, dass der sogenannte Leiter der Einrichtung die Leute für 50 Pfennig pro Stunde beschäftigte.

 

Meine Frau hatte inzwischen unsere anderen Sachen ausgepackt und eine Liste über noch fehlende Kleinigkeiten wie Besen, Eimer, Putzmittel usw. erstellt. Wir sind dann in einen Supermarkt in der Nähe und haben dort fast alles bekommen.

                                                                 

Als wir zurückkamen, trafen wir auf unserer Etage einen Nachbarn, der sich als „Jupp“ vorstellte, da sein polnischer Vorname kompliziert war und er von seinen Kollegen mit Jupp angesprochen wurde. Er hat uns auch am Abend eingeladen, weil sein ehemaliger Mitbewohner Manfred zu Besuch kam.

 

 Meine Frau hatte ihn auf die dreckige Toilette angesprochen, worauf er ihr einen Schlüssel holte und sagte, dass diese Toilette seine ist.

 

Wir haben dann in unserer Bude rein Schiff gemacht, Betten bezogen mit zwei verschiedenen Bettbezügen, die wir bekommen hatten. Wir haben dann noch das gesamte Zimmer gewischt. Unsere Unterkunft wurde bewohnbar. Es war wie Camping in der Wüste.

 

Der Abend bei Jupp hatte uns aus unserem Tief wieder etwas aufgebaut. Der Manfred aus Dresden hatte vor einem Jahr zusammen mit Jupp in derselben Wohnung gewohnt. Er war viele Jahre Maschinist bei der DDR-Reederei und ist bei einem Landgang ausgebüxt. Seine Frau und Kind blieben in der DDR. Trotz eines Ausreiseantrags und anderer Bemühungen hielten die DDR-Behörden seine Frau hin. Der Manfred arbeitete in Marl in  einer Chemiefabrik und hatte auch eine kleine Wohnung in Marl. Für Sonntag hatte uns Manfred zum Grillen an die Duisburger Seenplatte eingeladen. Wir haben sehr lange gequatscht und sind sehr spät zurück in unsere „Behausung“.

 

Der Sonntagsausflug war sehr schön und hatte uns etwas aus dem Alltagsgeschehen herausgebracht.

 

Für die neue Woche war die Anmeldung beim Bürgeramt und Besuch einer Bank vorgesehen, um an Geld aus dem zinsgünstigen Kredit zukommen. Beim Bürgeramt ging alles schnell vonstatten. Wir mussten noch einige Tage auf einen neuen Personalausweis warten. Wir erhielten beim Bürgeramt einen wertvollen Tipp: Das Sozialamt könne uns einen Vorschuss auf das Arbeitslosengeld geben. Das hat geklappt und wir waren mit 500.- Mark erst mal wieder aus den Sorgen raus.

 

Auf die Kreditzusage bekamen wir eine Absage, denn dafür brauchte man einen festen Wohnsitz. Trotzdem versuchten wir es weiter, und endlich erbarmte sich ein Mitarbeiter der Sparkasse mit uns zu sprechen. Das Ergebnis war: Der feste Wohnsitz war zwingend notwendig. Dennoch könnte es noch lange dauern, bis man an Geld käme. Er sagte uns, wenn wir einen Mietvertrag vorweisen, könnte die Sparkasse einen Kredit auf unsere amtliche Kreditzusage geben.

 

Am nächsten Tag sind wir zum Arbeitsamt. Auch hier wollte man uns abwimmeln. Wir haben lange und laut am Empfang diskutiert, bis eine andere Mitarbeiterin uns in ihr Büro mitnahm. Nachdem wir unser Anliegen vorbrachten, hat sie uns nach einigen Telefonaten zu dem zuständigen Arbeitsvermittler gebracht.        

 

Der hatte eine Reihe von Stellenangeboten, aus denen ich drei Unternehmen aussuchte, für die ich Chancen sah.

 

Meine Frau hatte sich zunächst für einen Lehrgang überreden lassen. Der Lehrgang war eigentlich für kaufmännische Berufe und hatte sie gelangweilt. Er hatte aber den Vorteil, dass vor allem junge Frauen aus vielen verschiedenen Herkunftsländern und arbeitssuchende Deutsche hier zusammenkamen. Dadurch erhielt sie viele Tipps zum Meistern des Alltagsgeschehens.

 

Ich hatte in den kommenden Wochen die mir angebotenen Firmen besucht. Zwei Firmen waren in meine nähere Auswahl gekommen. Alle hatten betont, mir schnellsten Bescheid zugeben. Aber ich wartete und wartete.

 

Wir waren auch auf dem Wohnungsamt und hatten einen Antrag abgegeben. Hier hatten wir auch zwei Adressen zur Besichtigung erhalten. Die Wohnungen waren in einem schlechten Zustand, die notwendigen Reparaturen hätten mehrere Wochen benötigt.

 

Durch eine Zeitungsannonce hatten wir ein Angebot gefunden, welches von der Lage und von der Ausstattung gut klang. Eine Sekretärin der Hausverwaltung zeigte uns die 2-Zimmer-Wohnung im 3. Stock einer belebten Einkaufsstraße. Uns gefiel die Wohnung, das wäre ein Glücksgriff, um aus dem Aufnahmelager raus zu kommen. Die Chefin hatte uns ausführlich ausgefragt und dann ihr O. K. gegeben. Ich hatte ihr auch gesagt, dass wir wenig Geld haben und die Kaution nur in Raten zahlen könnten und unser Hausrat nicht vom Feinsten für die Gegend sei.

 

Sie antwortete: „Sie machen sich wohl etwas daraus, was Leute denken“.

 

Obwohl es noch einige Tage bis Monatsanfang war, gab sie uns die Schlüssel und wir konnten einziehen.

 

Durch unseren Nachbarn „Jupp“ und seinen Arbeitskollegen haben wir unseren Umzug durchführen können. Wir sind mit Manfred und unseren Koffern vornweg gefahren. Den Einzug haben wir später zünftig gefeiert.

 

Mit der Arbeit lief es dann auch. Ich konnte ab 1. November 1985 bei Krupp in Duisburg- Rheinhausen als Leiter der Schweißtechnik und Qualitätssicherung anfangen. Meine Frau arbeitete ab Januar in einem großen Steuerbüro als Betriebsprüfer.

 

Mit der Berufstätigkeit konnten wir uns in einer relativ kurzen Zeit das Leben nach unseren Wünschen gestalten. Wir hatten einen neuen Freundeskreis gefunden und haben viele Reisen unternommen. Die Verwandtschaft hat sich zwar nach unserer Flucht einige dumme Fragen durch die „Stasi“ anhören müssen. Da sie aber alle nichts von unserer Flucht wussten, konnten sie auch nichts aussagen und sind relativ gut weggekommen.

 

Wer hätte gedacht, dass die DDR so gewaltlos zu Ende geht. Die Menschen in der DDR mussten aber alles das, was wir erlebt haben wie Arbeitslosigkeit, Wohnungssuche, neuer Freundeskreis usw. nach der Wende durchmachen. Wenn ich bedenke, dass mein Institut von 500 Mitarbeitern auf 150 reduziert wurde und die Wirtschaft wie nach einem Krieg am Boden lag, so hat das für viele Menschen Sorgen, Nöte und Trennung von Heimat, Freunden und Verwandten bedeutet. Die meisten haben es dank ihrer Ausbildung geschafft, eine neue Heimat zu finden und die alte nicht zu vergessen.

 

Berufsweg

 

Oberschule oder Lehre?

 

In der 8. Klasse wurde die Entscheidung getroffen für den weiteren Lebensweg: entweder 4 Jahre Oberschule oder einen Beruf erlernen. Der Oberschulbesuch war von der schulischen Leistung abhängig und wurde vom Lehrerkollegium entschieden. In meinem Berufsleben habe ich viele gestrauchelte Abiturienten erlebt, wo die Eltern darauf drangen, dass ihre Kinder unbedingt Abitur machen sollten, die dann Schlosser gelernt  oder irgendeinen anderen Beruf ergriffen haben. Sie wären dem wahrscheinlich aus dem Weg gegangen, wenn die Entscheidung den Lehrer überlassen worden wäre.

 

 

Das wurde später unheimlich ausgenutzt, denn es gab immer jedes Jahr – oder nach zwei Jahren –  die Parteitage der SED, auf denen irgend etwas Neues ausgeklügelt wurde, z.B. dass wir mehr Arbeiterkinder brauchten, die studieren. – Es war also insgesamt ein Politikum, wer auf die Oberschule gehen durfte und wer eine Berufsausbildung beginnen musste. Das ist ja erst mal vernünftig. Man sollte allen die Chance geben und schwache Schüler fördern, damit diese auch zum Studium kommen. 

 

 

Lehre nach dem Schulabschluss

 

Nach Schulende traf ich dann öfter noch mit meinen Fußballfreunden zusammen. Eines Tages saßen wir mal wieder zusammen, da sagten die: „Mensch, nächste Woche werden in dem Pumpenwerk in Halle Lehrlinge aufgenommen, da gibt es 60 Mark Lehrlingsgeld. Da hat man ein bisschen Geld. Willst du nicht mitkommen?“ – Und so ging das hin und her. Irgendwie dachte ich: Na ja, gehst mal mit. 

 

Die Woche darauf gab es die Zeugnisse, und ich fuhr sofort zur Aufnahmeprüfung. Es waren so ungefähr 40, 50 Jugendliche, die da alle warteten, was da kommt. Wir wurden  in Gruppen aufgeteilt. Die ganze Ausbildungswerkstatt wurde uns gezeigt. Weise-Monski hieß die Firma im Volksmund, nach den Gründern. Der Betrieb war enteignet. Es war ein Betrieb mit ungefähr 1000 Mann Belegschaft, also ein größerer Betrieb. Der war auch nicht ausgeschlachtet worden in dem Maße, wie das in anderen Firmen war. Die gesamte Produktion war für wichtige Vorhaben der Sowjetunion, wie U-Boots- und Schiffbau sowie für wasserwirtschaftliche Projekte ausgerichtet. Damit hatte der Betrieb einen guten Start nach Kriegsende und war auch für die Zukunft gut aufgestellt.

 

 

Die Lehrwerkstatt hatte hinten einen Kopfbau, der mit mehreren Klassenzimmern als Berufsschule eingerichtet war, dahinter befand sich die Werkstatt. Diese war in drei Teile geteilt, in einer Reihe standen nur Drehmaschinen, in der Mitte waren Werkbänke und rechts waren die Werkzeugausgabe, der Maschinenpark mit Hobelmaschinen, die Fräsmaschinen usw. und hinten war noch eine Schmiede. 

 

Zuerst gab es so kleine mündliche Befragungen. Für eine schriftliche Prüfung  hatte man uns da auf die einzelnen Zimmer verteilt. 14 Tage darauf kriegten wir einen Brief, den ich schon abfing, bevor meine Eltern ihn lesen konnten, und da stand drin, dass für mich ab 1. September das Lehrjahr beginnen sollte. Ich nutzte eine günstige Gelegeheit, um meine Eltern auf die neue Situation vorzubereiten. Meine Eltern waren von meinen neuen Berufswunsch garnicht begeistert. Nach langer Diskussion und nach meiner Aussage später ein Ingenieurstudium zu absolvieren gaben sie sich zufrieden.

 

Wie sah das in der Lehre aus? Wir hatten also einen entsprechenden Ausbilder, so um die 50 Jahre, der Erfahrung in der Ausbildung von jungen Menschen hatte. Wir waren als Schlosserlehrlinge etwa 25 Jungs, und es waren noch 3 Mädels dabei; aber es stellte sich schnell heraus, dass sie nur 1 Jahr mitmachen und danach weiter als technische Zeichnerinnen ausgebildet würden. Unter den 25 Jungendlichen waren noch drei ältere dabei, die die Oberschule abgebrochen hatten. Wir arbeiteten an 6 Tagen insgesamt 48 Stunden – damals war das ja normal. Wer unter 18 war, der brauchte nur 45 Stunden arbeiten. Aber durch die Berufsschule ergab es sich sowieso, dass wir die ganze Woche im Einsatz waren. An zwei Tagen war immer Berufsschule, wo also bestimmte berufsbezogene Fächer, wie Fachrechnen, Werkstoffkunde und Maschinenkunde und solche speziellen Fächer, durchgenommen wurden. 

 

 

Politische Einflussnahme in der Lehre

 

Wir hatten auch das Fach Staatsbürgerkunde. Da bekamen wir eine neue Lehrerin, die uns mit den Vorzügen des Sozialismus vertraut machte, also Literatur von Marx, Engels, Lenin, Stalin. Es gab also dicke Wälzer, wo auszugsweise dann bestimmte Dinge behandelt wurden. Wir hatten einen FDJ-Sekretär, der uns häufig in die Mangel genommen hatte. Es ging z.B. darum, dass bei Demonstrationen – 1. Mai, 8. Mai, Tag der Befreiung, Tag der Republik usw. – die Jüngeren vorneweg ziehen mussten in Blauhemd mit Fahne und Transparenten – das war praktisch die Staffage für die Demonstration, wir waren da also immer fällig und mussten so mit marschieren. 

 

 

Verpflichtende Freizeitgestaltung

 

Die Dinge verschärften sich dann noch etwas, weil die neu gegründete ‚Gesellschaft für Sport und Technik‘ um uns warb, und zwar für Motorradfahren, Geländefahren für Motorrad, Funkausbildung, Tauchausbildung, Schießausbildung. Bei uns im Betrieb gab es dann also zwei Sektionen, das war Motorradfahren und Schießen. Für Motorradfahren hatten sich natürlich alle entschieden, aber es gab nur zwei Motorräder. Dann bin ich zum Schießen, das war mehr oder weniger Schießsport, wo mit Kleinkaliber-Pistolen und Gewehren geschossen wurde. 

 

Wir trafen uns zwei-, dreimal in der Woche, und es ging also darum, dass sie uns ein bisschen mehr in den Klauen hatten, dass wir nicht irgendwie anderweitig ausscherten. 

 

Aber es gab dann auch immer so Ideen, die sich herausbildeten, wenn es hieß: Demonstrationen – ihr müsst das publik machen. Dabei mussten wir mitmachen, mit dem Transparent vorneweg. So haben sich dann die älteren Kollegen immer an unserer Einsatzfreude schadlos gehalten und sich hinter uns versteckt.

 

 

Sozialistische Brigade und die Tarnung von Arbeitslosigkeit

 

Es gab dann noch mehr Einsätze, beispielsweise in der Sozialistischen Brigade. Es ist so gewesen: In der DDR gab es ja offiziell keine Arbeitslosigkeit, es gab ja auch kein Arbeitslosengeld, jeder hatte eine Arbeit. Es gab natürlich Leute, die wirklich arbeitslos waren, das konnte

 

z. B. ein Lehrer sein, der mal im Unterricht etwas Unrechtes gesagt hatte, der von der Schule verwiesen worden war, und der fand natürlich nirgendwo Arbeit in seinem Beruf. Der konnte dann sehen, wie er zurechtkam. Das waren also unsere Arbeitslosen. 

 

Dann gab es natürlich auch wie in jedem Land der Welt Leute, die es nicht so mit der Arbeit hatten, die dem Alkohol zugeneigt waren, und die hießen in der DDR Problembürger. Die Problembürger, die mussten also wieder in den Arbeitsprozess integriert werden. Dies ging so weit, dass wir teilweise als Jungfacharbeiter früh morgens um 6 Uhr losgingen mit einer Adresse, dort klingelten und den Betreffenden mit zur Arbeit brachten. Manchmal hatte er verschlafen, dann zog ich weiter und sagte ihm, komm mal nach. Eigentlich war alles eher eine Behinderung, aber so sollte ein bisschen die sozialistische Erziehung sein, also die Mitnahme aller Menschen. Na ja.

 

 

Dauer der Lehre und Studienwunsch mit Bedingungen

 

Die Ausbildung ging über 2 Jahre und dazu kam noch ein Jahr Jungfacharbeiter, das heißt, man kam in den Betrieb rein, dort wurde man in eine Arbeitsgruppe integriert mit Altgesellen, mit denen man dann zusammenarbeitete, die einem noch ein paar Kniffe zeigen konnte. Die Bezahlung war auch schon die unterste Tarifklasse für Facharbeiter. 

 

Während der Ausbildung und auch während der Zeit als Jungfacharbeiter kam bei mir plötzlich der Wunsch, doch noch zu studieren. Bei einer Gelegenheit, als nämlich ein neuer FDJ-Sekretär kam, hatten ein Freund von mir und ich dann mal im Büro angeklopft, ob es denn möglich wäre, uns zum Studium zu delegieren. Er stimmte zu, es sei kein Problem. Wir sollten 1 ½ Jahre zur Armee gehen und danach zum Studium. Da fiel uns natürlich erst mal die Kinnlade runter. Das wollten wir uns erst noch überlegen. Es war also so, dass die DDR angefangen hatte, eine Armee aufzubauen, hatte aber gleichzeitig nicht den Mut zu einer Wehrpflicht, sondern wollte das „auf freiwilliger Basis“ durchsetzen. Dazu setzte man nun alle möglichen Druckmittel ein, um junge Leute in die Armee zu kriegen, vor allen Dingen solche, die studieren wollten. 

 

Für uns war das Problem erst mal aus der Welt, denn zur Armee wollten wir beide nicht. Es verging auch eine ganze Weile, bis unser lieber FDJ-Sekretär wiederum auf uns zu kam und uns noch einmal auf unseren Studiumswunsch ansprach: „Ja, passt mal auf. Auf dem letzten Parteitag hatte man beschlossen, dass Industriearbeiter aufs Land gehen sollten. Wenn ihr das machen würdet, dann könnt ihr anschließend studieren.“

 

 

Landreform in der DDR

 

Seit August 1945 (bis 1949) lief ja eine große Landreform unter dem Motto ‚Junkerland in Bauernhand‘. Alles, was über 100 Hektar war, wurde entschädigungslos enteignet, teilweise wurden die Eigentümer ins Gefängnis gesteckt.

 

Ich möchte es einmal so beschreiben: Ein Landarbeiter, der von früh bis abends im Kuhstall war, wenn der jetzt plötzlich ein Hektar oder zwei Hektar Land kriegt, dann steht er auch da wie die Kuh vorm Tor. Das Resultat dieser Art Landreform war also, dass die Landwirtschaft schlecht wurde. Es gab also massive Missernten. Und die sogenannten Neubauern hatten zwar alle eine Kuh und zwei Schweine, wovon sie eins abgegeben mussten, das andere war für sie selbst – damit kann man aber natürlich keinen Staat ernähren. 

 

Diese Landreform zog sich so bis ca.1952, dann wurden die LPGs (Landwirtschaftliche Produktions Genossenschaft) gegründet. Das hieß dann: Alles wieder zurück, wir machen jetzt eine Genossenschaft, und jeder arbeitet fleißig mit. Einige machten aber nicht sofort mit, warteten ab und stellten sich lieber hinten an. So richtig lief diese Neuorganisation also gar nicht an. 

 

 

Probleme der LPGs mit Maschinen und deren Bedienung

 

Denn dort wo es einigermaßen lief, hatten die LPGs natürlich keine Maschinen. Also gründete man sogenannte  Maschinenausleihstationen (MAS),  wo man Traktoren, Pflüge, bis hin zum Mähdrescher ausleihen konnte. Dann stellte man plötzlich fest, dass keiner mit den Gerätschaften so richtig umgehen und keiner sie reparieren konnte; somit wurden sie defekt hingestellt.  

 

Es reifte die Erkenntnis, sie bräuchten Arbeiter. Wir meldeten uns dort, und der FDJ-Sekretär versicherte uns, wenn wir dort 1 bis 1 ½ Jahr arbeiteten, könnten wir wiederkommen, um zum Studium zugelassen zu werden. 

 

Ich muss sagen, die Ausbildung dort war sehr gut und richtig zielgerichtet, ohne Politik. Das war wirklich Arbeiten und Lernen von früh bis abends an den Geräten. Dazu machten wir dann noch die Fahrerlaubnis, das war  wichtig für uns junge Leute. So kam ich praktisch in eine sogenannte MTS (Maschinen Traktoren Station) und hatte 15 Traktoren unter mir; dafür gab es die Berufsbezeichnung des Traktoristen. 

 

Früh wurde da betankt, und ich musste als Mechaniker nach dem Rechten gucken, also ob die Maschinen abgeschmiert waren, ob alles in Ordnung war, und dann konnten die raus auf ihre Felder. Ich fuhr dann mit dem Motorrad von Feld zu Feld und kontrollierte, ob alles in Ordnung war. Es war eigentlich ein ganz guter Job. 

 

 

Chance mit der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF)

 

Richtig gut war die sogenannte ABF, das heißt Arbeiter- und Bauernfakultät. Dort konnten also Menschen, die schon im Beruf waren, die durch Kriegsereignisse oder weil die Eltern kein Geld hatten, ein Abitur mit 180 Mark Stipendium machen. Diese ABFs waren in der Regel Universitäten angegliedert, sodass danach der Übergang zur Universität möglich war. Das haben recht viele genutzt, die damit die Möglichkeit hatten, ihr Abitur nachzuholen. 

 

Es war also nicht alles nur schlecht in der DDR, es gab auch gute Ansätze, die aber irgendwie verwässert wurden. Genauso mit diesen Delegierungen zur Oberschule, das hat man dann weidlich ausgenutzt. Wenn da jemand war, der sich in der Kirche engagierte, kamen dessen Kinder eben nicht auf die Oberschule, weil sie eben keine Arbeiterkinder waren, irgendwas hat man immer gefunden. Vieles war gut gemeint, aber es gab vieles, was dann schlecht gehandhabt wurde. 

 

 

Endlich im Studium

 

1957 kurz vor Beendigung der 1 1/2 Jahre ging ich zum Chef von der MTS und brachte meinen Wunsch zum Studieren noch einmal vor. Er sagte: „Kein Problem, ich schreib dir eine Delegierung.“  Ich ging praktisch zum Studium an die Ingenieurschule, und dort sagte man uns direkt am ersten Tag, wo es lang geht: pünktlich alle Tage, kein Schwänzen, es wird die Anwesenheit kontrolliert, zweimal eine 5,  dann wäre man runter von der Schule. Es war also ein recht strenges Regime. 

 

Ich hatte noch ein bisschen Trubel mit dem Stipendium, statt 180 Mark hatten sie mir nur 120 Mark gegeben, weil mein Vater Angestellter war. Ich widersprach, wieso, ich bin Arbeiter, und da haben wir ewig hin- und hergestritten. Und so nach einem halben Jahr gaben sie dann nach, und ich  bekam die 180 Mark.  

 

Als neues Lehrfach gab es Marxismus, Leninismus und Ökonomie. In Studentenkreisen wurde nicht viel politisch geredet. Es gab da so kleine Grüppchen, wo man sich sicher war, dass keiner zuhörte … obwohl, ganz so sicher – das habe ich aber erst nachher erlebt – waren wir doch nicht. Da gab es z.B. den Spruch, der angeblich von Karl Marx war: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit (der Spruch ist von Hegel). Das war also das Resultat des Marxismus, Leninismus und Politikökonomie.

 

Die ersten Semesterferien waren eine große Enttäuschung, wir mussten von unseren Semesterferien 4 Wochen zur Armee in die Garnisonsstadt Prenzlau (Brandenburg). Dort brachte man uns bei, was man alles zum Leben bräuchte. Es ging also los: morgens antreten, 1. Reihe zwei Schritt, 2. Reihe ein Schritt vor, Knöpfe und Schuhe kontrollieren. Dabei merkte der Spieß, dass ich wahrscheinlich mein ganzes Leben die Schuhe falsch geputzt hatte, was mir neu war, man musste nämlich auch den Steg – also zwischen Sohle und Absatz – den musste man auch einschmieren. Zugleich hatten wir täglich 1 ½ Stunden Politik-Unterricht durch Politoffiziere, und wir hingen da ziemlich durch. Man lernte, mit offenen Augen zu schlafen. Der Politoffizier redete sich öfter in Rage, sein Schlusswort war immer: Deutschland den Deutschen, Korea den Koreanern – plötzlich schrie einer von hinten: „Und Indien den Indianern.“ Alles lachte, der vorne bekam eine rote Birne. Und dann ging das Geschrei los. Den armen Hund, der die Indianer nach Indien gebracht hatte, den haben sie von der Schule geschmissen. 

 

Nach Abschluss der dreiwöchentlichen Übungen wurden wir im Range eines Soldaten entlassen. Nach Abschluss des Studiums und evtl. weiteren Wehrübungen konnten die Absolventen in den Offiziersrang erhoben werden. 

 

 

Meine ersten Berufsjahre

 

Nach meinem Studium wurde ich in einen Betrieb in Weimar verpflichtet.Das war familiär eine Katastrophe. Da meine Frau im letzten Semester ihres Studiums war , konnte sie jede Hilfe gebrauchen, zumal sie sich um unser Kind kümmern musste. Ich versuchte mehrfach, meinen Vertrag zu lösen, nach ca. 6 Monaten war es mir dann endlich gelungen.

 

Anfang der 1960er Jahre erkannte die Regierung, dass in der Wirtschaft unbedingt eine Verbesserung der Rentabilität erreicht werden musste, zumal die Flucht von Menschen in den Westen den Arbeitskräftemangel und damit den Abschwung der Wirtschaft verstärkte. Es wurden technologische Zentren für die verschiedene Fertigungsgebiete gegründet. So ein Zentrum gab es auch in meiner Heimatstadt Halle. Aus der ehemaligen SLV (Schweißtechnische Lehr- u. Versuchsanstalt ) Halle entstand ein ‚Zentralinstitut‘. Für die neuen Aufgaben wurden Hoch- und Fachschulkräfte dringend benötigt, zumal auch hier die Fluchtwelle große Lücken hinterlassen hatte.

 

 

 

Im Frühjahr 1960 wurde ich somit als Assistent des ebenfalls neuen Forschungsdirektors eingestellt. Mit der neuen Struktur galten auch erhöhte Sicherheitsanforderungen. Als Assistent des Forschungsdirektors hatte ich Zugang zu sensiblen Daten aus Forschung und Industrie. Deshalb wurde ich zur ‚Vertraulichkeit‘ verpflichtet. Mir war klar, dass ich bei den zuständigen staatlichen Stellen dafür überprüft wurde.

 

Eines Tages sprach ein Mitarbeiter mich an, da er einen ehemaligen Studienkollegen gesehen hatte, der persönlich vom Institutsdirektor durch das Institut geführt wurde. Wir fanden das sehr eigenartig. In der Folge wurden wir darüber informiert, dass das unser Bevollmächtigter der Staatssicherheit ist, der auch ein Büro in unseren Haus hatte. Damit wurden auch häufig Kontrollen zur Sicherheit und den Umgang mit vertraulichen Dienstsachen durchgeführt. In den folgenden Jahren war ich häufig dienstlich in den Staaten des sozialistischen Wirtschaftsgebietes unterwegs und habe dort an Arbeitsgruppen oder Fachveranstaltungen teilgenommen.Später übernahm ich im Institut eine Abteilung, die sich mit der Überprüfung und der Zulassung von Schweißbetrieben befasste. Eine derartige Stelle gab es auch in der BRD, die ähnliche Aufgaben wahrnahm.

 

 

Westreisekader

 

In allen Staaten der Erde ist es notwendig, dass sich Wissenschaftler, Ingenieure und Kulturschaffende in einen internationalen Erfahrungsaustausch begeben. Selbst diktatorische Staaten können es sich nicht leisten, z.B. Wissenschaftler von Tagungen, Kongressen und Industriemessen  abzuhalten, da sie für den Fortbestand des Regimes notwendig sind. So war auch die DDR gezwungen, trotz aller Abschottungsmaßnahmen, Menschen die Möglichkeit zum internationalen Austausch zu geben.

 

Zu dieser Zeit hatte die Regierung der DDR große Anstrengungen zur internationalen Anerkennung unternommen. Die Mitgliedschaft der DDR im internationalen Institut für Schweißtechnik war die Folge. Damit ergab sich, dass eine erhebliche Zahl von Mitarbeitern zu Westreisekadern ernannt werden mussten, um an Kongressen oder Arbeitsgruppen teilzunehmen. Eine Regelung des IIW führte dazu, dass bei Exporten sicherheitsrelevanter Erzeugnisse, eine Überprüfung und Zulassung der jeweiligen Hersteller des Lieferlandes notwendig wurde. Eine gegenseitige Anerkennung wurde ausgeschlossen. Damit mussten weitere Mitarbeiter für diese Aufgaben, die auch eine erhebliche Einnahme an Gebühren in DM erbrachten, vorgesehen werden.

 

Ich kannte die Regeln der Stasi seinerzeit nicht, aber aus den Befragungen konnte man entnehmen, dass eine Flucht des Ausreisenden in den Westen verhindert werden musste. Mir war klar, dass es regelmäßig Überprüfungen durch die Stasi gab. Das bedeutete z.B.: Die Ehe muss intakt sein, und Kinder in der Familie geben eine Sicherheit, damit der Ausreisende wieder zurückkommt. Wenn der Ausreisende keine Westverwandtschaft hatte, war das ein weiterer Grund für die Aufnahme in diesen Westreisekader. Die Parteimitgliedschaft in der SED war sicher weniger ausschlaggebend, weil selbst eine Reihe von SED-Genossen das Weite gesucht hatten. Bis zum Mauerbau hatten über 2 Millionen Menschen das Land verlassen.Von einer Nachbarin wurde meine Frau darüber informiert, dass 2 Männer bei ihr um Auskunft über unsere Familienverhältnisse und unsere Einstellung zum Staat erfragt haben. Meine Frau war darüber nicht gerade amüsiert. Mein Kommentar dazu: „Die arbeiten an meiner Zulassung als Westreisekader".

 

Die Genehmigung wurde zunächst für eine Dienstreise ins damalige Jugoslawien erteilt. Danach erfolgten viele Dienstreisen nach Frankreich, Schweden, Westberlin und in die Bundesrepublik.Zur Vorbereitung der Reisen wurden die Betriebe informiert, die Termine abgesprochen und der Reiseablauf festgelegt. Die Zusammenstellung der Reisegruppen erfolgte zunächst nach fachlicher Kompetenz. Die endgültige Zustimmung erfolgte dann durch das Okay der Sicherheitsstellen. Den grünen Reisepass der DDR erhielten die Dienstreisenden über unsere Reisestelle direkt aus Berlin zugestellt. Der Reisepass musste sofort nach Beendigung der Reise zurückgegeben werden. Die Verhaltensweise gegenüber den Besuchten waren in regelmäßigen Schulungen klar umrissen. Die Gespräche sollten ausschließlich zu fachlichen Themen geführt werden. Politische sowie private Gespräche seien zu unterlassen. 

 

Nach Ende einer jeden Reise erfolgte die Auswertung. So wurde ein sogenannter24-Stunden Bericht verlangt. Nach Rückreise am Samstag musste dieser Bericht beim zuständigen Bevollmächtigen der Staatssicherheit spätestens bis 8.00 Uhr am nächsten Werktag vorgelegt werden. Der Bericht wurde von jedem Dienstreisenden auf einem einheitlichen Formular erstellt, wobei jeder über die anderen Mitreisenden berichtete. In dem Bericht wurden gezielte Fragen gestellt:z.B.

 

  • Wer hat das Hotel bestellt? – Name und Anschrift, Zimmer-Nr.
  • Wurde von den Mitreisenden privat telefoniert oder ein Brief  verschickt?
  • Hat sich der Mitreisende von der Reisegruppe getrennt aufgehalten?
  • Hat der Mitreisende Geschenke erhalten. Welche?
  • Wurden abfällige Äußerungen über die DDR und deren Staatsorgane  getätigt?… usw.

 

Nach Abgabe der Berichte erfolgte häufig eine persönliche Befragung.

 

Die Reisen waren für mich insofern positiv, da man durch die Vielzahl der besuchten Betriebe seine technischen und technologischen Kenntnisse erweitern konnte. Negativ war, dass die in den Jahren gewachsene Zahl der Neider im Betrieb sich natürlich vergrößerte. Am allerschlimmsten war aber, dass der häufige Kontakt zur Stasi bei Freunden und Kollegen zu Misstrauen führte.

 

Politisches Geschehen während meiner Kindheit

 

 

Gründung der DDR

 

Die DDR wurde bekanntlich1949 gegründet. Damit änderte sich einiges massiv auf dem Gebiet Ostdeutschlands, z. B. wurden die 5 Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt in 14 Bezirke untergliedert. Das Land Thüringen hatte als Beispiel den Bezirk Suhl, Bezirk Erfurt und Bezirk Gera. Für jeden Bezirk gab es eine Regierung, die nannte sich Bezirkstag. Dort gab es einen Vorsitzenden, analog Ministerpräsidenten. Ferner gab es eine Bezirksleitung der SED, also die Partei, die hatte eigentlich das Sagen. Dann gab es die Bezirksleitung Pioniere, Bezirksleitung FDJ, Bezirksbehörde der Volkspolizei, und, und, und. Die Staatssicherheit gab es auch noch für jeden Bezirk, das heißt es gab also viele Häuptlinge und wenig Indianer. Das wirkte sich natürlich auch auf die Wirtschaft aus. 

 

Die Gründung der DDR mit ihren 14 Bezirksregierungen wurde auch in der Schule entsprechend in den Pionierunterrichten gewürdigt. Es standen immer drei Begriffe im Vordergrund: a) Freundschaft zur Sowjetunion, b) Frieden und dann – ich spreche mal wie die Funktionäre sprachen – c) die bösen Kapitalisten und Imperialisten. Das waren also die Dinge, die uns in der Kindheit und Jugend eingetrichtert wurden.

 

Erste Opfer der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED

 

Es gab bereits 1946 den Vereinigungsparteitag KPD/SPD zur SED. Unser Nachbar, Herr Seeburg – das habe ich erst später erfahren – war schon in der Nazizeit ein grosser SPD-Genosse und hat sich seinerzeit im Untergrund einer Gruppe angeschlossen. Herr Seeburg hatte sich öffentlich gegen die Vereinigung gestellt, ja, und eines Abends wurde er abgeholt.

 

Ich kann mich daran erinnern, dass seine Frau in unserer Küche stand und weinte. Da ich noch Kind war, bin ich vor Angst stiften gegangen, da ich nicht wusste, was los war. Am nächsten Tag waren sie nicht mehr da. Herr Seeburg wurde noch in der Nacht entlassen. Da packte das Ehepaar  gleich seine Koffer und flohen in den Westen.  – Vor dem Mauerbau war das ja noch möglich

 

Danach zogen Umsiedler aus dem Osten in deren Wohnung ein, mit denen wir uns mit ganz gut verstanden.

 

 

Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953

 

Wir hatten im Juni 1953 am Ende der achten Klasse nur noch Abschlussprüfungen, dazwischen waren immer mal freie Tage. Im Juni waren wir von unserem Fußballklub so 5, 6 Jugendliche zusammen im Freibad. Das Freibad war direkt neben dem Fußball-Stadion, dass in den 1930-er Jahren gebaut worden war. Es passte beides harmonisch recht gut zueinander. Wir hatten auch Fußball gespielt. Auf einmal kamen LKWs mit jeder Menge Leuten darauf im Blaumann und mit Transparenten, auf denen Sprüche standen, sie haben geschimpft und die Staats- und Parteiflaggen am Stadion heruntergerissen. Oh, was geht denn hier los, dachte ich, und dann waren die auch wieder weg. Eine große rote Fahne flog direkt vor unsere Füße. Einer meiner Freunde nahm die Fahne mit nach Hause. In der darauf folgenden Woche verteilte er rote Turnhosen die seine Mutter genäht hat. Sein Vater war Kriminalkommissar, wenn der das erfahren hätte….

 

Als ich am Nachmittag nach Hause kam, war meine Mutter in großer Aufregung: „Wo warst du denn? In der Stadt wird doch geschossen.“ Ich wusste nicht, was passiert war. Wir hatten beim Schwimmen überhaupt nichts mitbekommen. Am späten Nachmittag kam mein Vater von der Arbeit. Sein Büro war direkt gegenüber des Gewerkschaftshauses. Er berichtete meiner Mutter – wir haben als Kinder natürlich die Ohren ausgefahren –, dass das Gewerkschaftshaus gestürmt wurde, dass die systemkritischen Menschen Gewerkschaftsfunktionäre oder auch Gerichtsmitarbeiter verprügelt, die Möbel und die Akten aus den Fenstern geschmissen hatten, und da tüchtig Streit war. Panzer von den Russen wären aufgefahren, aber von Schüssen hatte er nichts gehört. 

 

 

Dies musste sich mehr oder weniger im Zentrum am Markt von Halle abgespielt haben. Heute steht da eine Gedenktafel, auf der von über 1000 Demonstranten berichtet wird. Es waren so zwei, drei Tage mit ein bisschen Unruhe, dann wurde es ruhiger. Ich hörte von einem Fußballkameraden, dass dessen Schwager und seine Schwester unmittelbar an dem Arbeiteraufstand beteiligt waren und man den  Schwager verhaftet hatte. Die Schwester war irgendwie davon gekommen  und konnte sich nach Westberlin absetzen. Das Schlimme war aber, dass die Familie meines Klassenkameraden jeden Tag die Polizei wegen Hausdurchsuchungen im Haus hatten. Ach von Befragungen war die Rede, so dass man schon als Kind mitkriegte, was da so etwa losging; als Kind fand man das natürlich sehr bedrohlich.

 

Wir hatten dann Ende Juli 1953 die Schulabschlussfeier, die war, bedingt wahrscheinlich durch die Randale am 17. Juni, etwas gesitteter. Es wurden die üblichen Volkslieder gesungen, die Rede war auch recht unpolitisch, möchte ich sagen, es ging also mehr oder weniger nur um die Entlassung der Schüler und Wünsche für den weiteren Lebensweg. Wir kriegten dann unsere Zeugnisse ausgehändigt, und das Ding war beendet. 

 

Schulzeit

 

 

 

Einschulung

 

Im September 1945 bin ich in die Schule gekommen. Halle war ja durch Kriegszerstörung nur zu 10 % betroffen; unser Schulgebäude stand also noch. Eine Zuckertüte bekam ich auch, diese war von einer Hausbewohnerin geliehen. Aus der Ledertasche von meinem Vater wurde ein Ranzen beim Schuster angefertigt. Der Schuster hat aber als Lohn die Reste, die übrig blieben, für sich behalten. Meinen Schulranzen habe ich 8 Jahre getragen. Der war aus so 3 mm dicken Rindsleder, das war zwar schwer, aber der Ranzen ließ sich im Winter auch als Schlitten nutzen. 

 

Das 1. Schuljahr wurde bald aus Mangel an Kohle bereits im November unterbrochen und als „Weihnachtsferien“ verlängert. Das heißt: Bereits im November 1945 war die Schule für mich schon zu Ende. Zu dieser Zeit gab es in Ostdeutschland kaum Brikett, es gab nur Braunkohle. Die Braunkohle aus den Revieren aus Mitteldeutschland, das war sogenannte Salzkohle, die war klitschnass und hatte einen ganz geringen Heizwert. Und da im November in unserer Schule nicht mehr geheizt werden konnte, saßen wir die letzten Tage mit Mantel und Schal im Unterricht, und es war saukalt. Bis zum Februar gab es deshalb verlängerte Weihnachtsferien. Die größeren Kinder wurden in eine zentrale Schule geschickt, wo die 6., 7. und 8. Klasse weiter Unterricht in großen Klassen bis nachmittags um 18 Uhr hatten. 

 

 

Neuanfang

 

In der Schule gab es einen Neuanfang  bedingt durch die Anpassung des Lehrstoffs an die neue Zeit. Die alten Lese- und Lehrbücher waren durch Schwärzungen und durch fehlende Seiten auf den neuen Standard korrigiert. Mit Beginn des neuen Jahres hatte sich durch eine Schulreform eine einheitliche achtjährige Grundschule durchgesetzt. Danach war ein Wechsel auf eine vierjährige Oberschule oder eine dreijährige Berufsausbildung möglich. Alle anderen Schulformen sowie Privatschulen wurden verboten. Damit wurde auch der Religionsunterricht in den Schulen untersagt.

 

In meiner Schulzeit hatte ich von 1950-1952 eine Lehrerin (man nannte die  neuen Lehrer tatsächlich Neu-Lehrer), die war so 45-50 Jahre alt, und sie war sehr streng. Wir hatten in der Klasse 3 Jungs; wir sagten Russen zu ihnen, es waren aber Wolgadeutsche, die auf der Flucht waren. Sie waren im Schnitt so 2-3 Jahre älter als wir. Der eine war ein richtiger Kerl, den haben wir Bulle nannten. Die drei tanzten ein bisschen aus der Reihe, und die Lehrerin langte immer wieder mal zu. Sie schlug sie auch hin und wieder mit dem Lineal auf die Hände, auch uns. Ich weiß noch, ich bekam mal von ihr eine Ohrfeige, die summte noch am Nachmittag, als ich nach Hause kam. Natürlich erzählte ich meiner Mutter nichts davon, dem Vater hätte ich es schon gar nicht erzählt. – Eigentlich war die Prügelstrafe ja verboten. 

 

Die Klassen waren alle mit Zweierbänken eingerichtet. Neben mir saß ein guter Freund. Damals wurden mit Schiefertafel und Schiefergriffel die ersten Schreibübungen unternommen. 

 

In der DDR war es üblich, dass die Einschulung der Kinder am 1. September stattfand. Nach 8 Jahren war die Grundschule beendet, und es kam dann die Trennung: entweder Beruf oder Oberschule. Dabei legte das Lehrerkollektiv fest, wer auf die Oberschule durfte, die Entscheidung ging rein nach Noten. Wer gute Leistungen hatte, der wurde von der Schule an die Schulbehörde gemeldet, so dass er auf die Oberschule weitergehen konnte. – Das war bei mir der Fall. Meine Eltern waren auch der Meinung, dass es gut wäre, wenn ich die Oberschule besuchte. 

 

 

Probleme beim Verzehr der Schulspeisung

 

Es gab in der Schule eine tägliche Schulspeisung auf den Fluren zwischen dem Knaben- und Mädchenbereich, die in Kübeln angeliefert wurde, meistens Suppen, irgendwelche Pudding- oder Nudelsuppen. Die Nudelsuppe sah auch weiß aus, die haben wahrscheinlich die Nudeln in Wasser und Brühe gekocht. Wir hatten Schüsseln, mit denen wir zur Essensausgabe gingen, und dort kriegten wir einen Schlag rein, und auch einen zweiten. 

 

Ich war sowieso kein großer Esser, meine Schüssel war meist nur so halb voll. Eines Tages kam der bullige Russe (Spitzname, er war  ja ein Wolgadeutscher) zu mir und meinte, ich solle ja meine Schüssel vollmachen lassen, da er das Essen haben wollte. Meine Mutter hatte sich dort engagiert und das Essen ausgeteilt und wunderte sich immer, was ich für ein guter Esser war.

 

Das Schlimmste war: Es gab auch mal Milchsuppe. Als Kind wäre ich fast gestorben, weil ich eine Milchunverträglichkeit gegen Kuhmilch hatte. Als ich von der Mutterbrust abgesetzt wurde, bin ich bald hopps gegangen, als die Kuhmilch in mich reingefüllt wurde, denn es kam hinten sofort wieder raus. 

 

Meine Milchunverträglichkeit war sehr schlimm. Meine Mutter hatte mich einmal, als ich schon älter war,  zum Milchholen in eine Milchhalle geschickt. Dort standen die Milchkannen allesamt aufgereiht. Kaum angekommen musste ich mich sofort übergeben, als ich die Milch roch. Milch war für mich also tabu. 

 

Als ich nun also bei der Schulspeisung meine Schüssel mit Milchsuppe bis zum Rand füllen ließ, wurde meine Mutter stutzig. Sie bekam dann sehr schnell spitz, dass der Russe immer meine Suppen gegessen hatte. Das hatte aber auch einen Vorteil, denn ich hatte einen Bodyguard, der stand mir immer zur Seite, und das blieb so bis zur 8. Klasse. 

 

Die drei Wolgadeutschen Jungs hatten auf Grund ihres gebrochenen Deutsch zwar die ganze Zeit arge Schwierigkeiten, in der Schule mitzukommen, die Lehrer haben allerdings ein Auge zugedrückt, so dass sie die Schulzeit abschließen konnten. Für uns waren die drei damals einfach nur Rabauken, die sich nur mit ihrer Muskelkraft durchsetzten.

 

 

Gründung der Pioniere

 

Ab 1948 wurde staatlicherseits die Jugendorganisation „Junge Pioniere“ gegründet. Eines Tages kam der Direktor mit einer jungen Frau, die ich bereits bei den Schuberts in der Brotfabrik in der Wohnung gesehen hatte. Er stellte sie vor als die neue Pionierleiterin, ihr  Name war Margot Feist. Margot Feist wurde später mal die First Lady der DDR, Margot Honecker. Die war bei uns die ersten Wochen als Pionierleiterin eingesetzt und hatte teilweise unser Interesse geweckt. Alles fing recht harmlos an. Sie unternahm mit uns viele Wanderungen mit Übernachtungen in Scheunen. Es gab die Pfingsttreffen, auf denen nicht nur gewandert, sondern auch viel gesungen wurde. Vor allen Dingen machten wir über das Wochenende  Ausflüge in die Umgebung, wo wir ebenfalls in einer Scheune schliefen. Auch Nachtwanderungen standen auf dem Programm. Das hat uns natürlich mächtig begeistert. 

 

In diesen Pionierstunden stand nun die Pionierleiterin vor der Klasse. Wir wurden so geschult, dass die Russen – Russen durften wir nicht sagen, das waren Sowjetmenschen – unsere Freunde sind, und Stalin war der Allergrößte. – Ich kann mich entsinnen, als der 1953 gestorben war, hatte es tatsächlich welche gegeben, die Tränen vergossen hatten. Ja, das war das Abbild nochmal, was die Älteren vielleicht erlebt hatten bei der Hitlerjugend. Das Gleiche wurde wieder gemacht.

 

An bestimmten Jahrestagen, z. B. am Tag der Befreiung, das war der 8. Mai, mussten wir immer zu Demonstrationen mitgehen, die Kinder waren dann somit die Staffage, die die ganze Sache ein bisschen auffüllten. Interessant war, wenn Margot Feist aus ihrem Leben berichtete. Ihr Vater war im KZ, er war schwerkrank, er war irgendwann zu einer Kur, die Mutter hatte im Gefängnis in Halle – in dem roten Ochsen, nennen das die Leute – im Gefängnis gesessen. Sie und ihr Bruder waren im Erziehungsheim, und dies hat sie uns alles so ein bisschen erzählt, von den KZs und was ihre Mutter im Gefängnis erlebt hatte. Später konnte ich es immer nicht fassen, dass Menschen, die am eigenen Leib erlebt hatten, wie das ist, dann selbst die Augen zugemacht haben und dasselbe an den Menschen, über die sie dann Macht hatten, ausübten.

 

Die Zielsetzung der Pionierorganisation war die Erziehung der Kinder im Sinne einer sozialistischen Ideologie. Ein Ziel dabei war die Freundschaft zur Sowjetunion. Hierzu wurde durch Literatur, Spielfilme und Kulturveranstaltungen ein großer Beitrag geleistet. Manchmal sah man in der Stadt unsere russischen Freunde, Offiziere, die mit ihren ‚Burschen‘ unterwegs waren. Nur: Zu einem persönlichen Kontakt mit den Sowjetsoldaten kam es in den ersten Nachkriegsjahren nicht.

 

 

Russisch in der Schule

 

Die weitere Neuigkeit war, dass wir ab der 5. Klasse Russisch lernten. Es gab außer Russisch keinen anderen Fremdsprachenunterricht. Russisch war schwer zu lernen. Erstens waren die Russen nicht gerade sympathisch. Die kyrillischen Buchstaben waren ja auch was völlig Neues. Bei uns kam noch verschärfend hinzu, dass wir eine ältere Dame als Russischlehrerin hatten, die kam in der 5. Klasse zu uns und sprach uns immer an mit ‚Ihr lieben Kinderchen‘. Da war die natürlich bei uns schon durch.

 

Mit Russisch habe ich mich eher stolpernd durchgearbeitet. Wenn ich damals gewusst hätte, was mein Klassenlehrer immer gesagt hatte: Ihr lernt nicht für die Schule, sondern ihr lernt fürs Leben, dann hätte ich besser gelernt. In meinen Berufsjahren war ich im Jahr 2-, 3-, 4- mal in der Sowjetunion und hatte dann doch Schwierigkeiten, mit der russischen Sprache irgendwie weiterzukommen. 

 

 

Erste Schulkameraden verschwanden

 

Es war aber so, dass wir im Herbst 1952, also mit Beginn der achten Klasse, umgezogen sind. Ich ging weiter in meine alte Schule, hatte einen 3 km Fußweg, jeden Tag in der Frühe und jeden Abend retour. Mit der Straßenbahn war das zu umständlich, denn ich hätte erst zum Zentrum fahren müssen, vom Zentrum aus dann zu der Schule. Dabei war die Straßenbahn nicht teuer, die kostete damals nur 15 Pfennig. 

 

Nach Weihnachten wunderte ich mich, dass ein Schulfreund nicht in die Schule kam. Ich dachte, er sei krank und wollte ihn besuchen. Ich wusste, die Eltern hatten eine Brotfabrik. Ich war da eigentlich immer gerne hingegangen, weil ich beim Nachhauseweg immer was von seiner Mutter unter den Arm gedrückt kriegte, mal war es eine Tüte mit Plätzchen, die ein wenig angebrannt waren, mal war es ein halbes Brot oder paar Brötchen. – Ich traf sie aber nicht mehr an. Sie hatten sich in den Westen abgesetzt.

 

Durch den Umzug hatte ich natürlich auch andere meiner Freunde nicht mehr so nah bei mir. In der Zwischenzeit war auch in der Weihnachtszeit 1952 einer meiner besten Freunde über Nacht verschwunden. Der Vater war Arzt, die waren also kurz vor Weihnachten irgendwie weg, wir hatten das gar nicht gemerkt. Ich hatte an ihrer Haustüre geklingelt, es machte aber niemand auf, irgendwann kam eine Nachbarin raus und sagte: „Die sind nicht mehr da, die sind bei Nacht und Nebel verschwunden.“

 

Ein anderer Freund, dessen Eltern getrennt waren – der Vater war nach dem Krieg in Kiel geblieben, während die Mutter mit den Kindern in Halle geblieben war –, dieser Freund hatte mir dann unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesagt: „Also, wenn die Schule zu Ende ist, ziehen wir auch nach Kiel. Mein Vater will uns bei sich haben, er besorgt uns eine Wohnung, in der wir mit unserer Mutter da wohnen können.“ 

 

Dass die Freunde mehr oder weniger wegfielen, das kam auch ein bisschen durch den Umzug zustande. Ich hatte mich deshalb auch einige Zeit vorher für den Fußballverein angemeldet, und wir hatten einmal in der Woche Training. Samstags oder sonntags Vormittag hatten wir dann auch ein Spiel. Durch den Fußball hatte ich neue Freunde gefunden.